Bundesregierung geht bei der Armenien-Resolution auf Distanz zum Parlament

Dem fraktionsübergreifenden Antrag der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen (18/8613), der das Massaker an den Armeniern 1915 deutlich als „Völkermord“ benennt, haben die Bundestagsabgeordneten am 2.6.2016 mit großer Mehrheit zugestimmt. Er war auf Druck der Grünen zur Abstimmung gestellt worden.

Angela Merkel, die ebenso wie der Vizekanzler Sigmar Gabriel aus bestimmten Gründen an der Abstimmung im Parlament nicht teilgenommen hatte, hat bei einer Probeabstimmung in der Fraktion für die “Völkermord”-Resolution gestimmt, berichtete der Focus am 2.6.2016 unter Berufung auf die Vize-Regierungssprecherin Christiane Wirtz.

Die Armenien-Resolution des Bundestags hat für die deutsche Regierung zwar keine bindende Wirkung, aber deren Absicht, sich von der Resolution des Bundestags zu distanzieren, löst Widerspruch aus.

Nicht zum ersten Mal wird Angela Merkel mit Zweifeln an ihrer Führungsqualität und ihrer Glaubwürdigkeit konfrontiert. Für die Kanzlerin sind offenbar weder Parlamentsbeschlüsse noch eigene Entscheidungen bindend. Somit sucht man vergebens nach klaren Leitlinien der Merkel-Politik. Welchen gewichtigen Grund gibt es, dass Angela Merkel ihre Meinung wechselt, das Parlament brüskiert und ihre Popularität riskiert? Der Focus will erfahren haben, dass der Deal mit der Türkei die Aufhebung des Besuchsverbots bei den in der Türkei stationierten Bundeswehrsoldaten vorsieht.

„Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung“ lautet Artikel 65 Satz 1 Grundgesetz (GG). Hieraus wird die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers abgeleitet – auch Kanzlerprinzip genannt. Wenn ein Kanzler an der von ihm als richtig empfundenen Politik nicht mehr festhalten und sich damit keinem Risiko eines weiteren Popularitätsverlusts aussetzen will, steht es ihm nach gängiger Rechtsauffassung frei, die Leitlinien seiner Politik zu ändern – oder vom Amt zurückzutreten. Die Kanzlerin trifft die Entscheidung zur Distanzierung von der Armenien-Resolution jedoch nicht, um einen drohenden Popularitätsverlust zu verhindern, sondern riskiert ihr eigenes Ansehen und darüber hinaus auch das des Parlaments. Es wäre nach Meinung von Merkel-Kritikern der richtige Zeitpunkt für eine “Meuterei auf der MS Merkel.”

In einem Leserbrief zum Meinungswandel der Bundeskanzlerin heißt es: “Was zählt, sind ihre Anweisungen aus dem Kanzleramt. Wie man die parlamentarische Demokratie demontiert? Man schaue dieser Tage nach Berlin.”

Die Armenien-Resolution des Bundestages

In dem Antrag “Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916” wurde das Massaker an den Armeniern 1915 durch das Osmanische Reich als „Völkermord“ bezeichnet. Bis zu 1,5 Millionen Armenier, Aramäer, Assyrer und sogenannte Pontos-Griechen im damaligen Osmanischen Reich wurden vertrieben und ermordet. Die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs hat die Gräueltaten bedauert, aber vehement bestritten, dass es sich um einen Genozid gehandelt habe. Die “Völkermord”-Resolution betrachten Erdogan und seine Anhänger als Angriff auf die heutige Türkei.

Der Antrag der Koalitionsfraktionen und der Grünen enthält Aufforderungen an die Bundesregierung,

  • “weiterhin zu einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit der Vertreibung und fast vollständigen Vernichtung der Armenier 1915/1916 sowie der Rolle des Deutschen Reiches beizutragen”, und
  • “die türkische Seite zu ermutigen, sich mit den damaligen Vertreibungen und Massakern offen auseinanderzusetzen, um damit den notwendigen Grundstein zu einer Versöhnung mit dem armenischen Volk zu legen.”
  • Die Regierung solle sich dafür einsetzen, dass zwischen Türken und Armeniern durch die Aufarbeitung von Vergangenheit Annäherung, Versöhnung und Verzeihen historischer Schuld erreicht wird.”
  • “Wissenschaftliche, zivilgesellschaftliche und kulturelle Aktivitäten sollten in der Türkei und in Armenien unterstützt und gefördert werden, wenn sie dem Austausch und der Annäherung sowie der Aufarbeitung der Geschichte zwischen Türken und Armeniern dienen.”
  • “Türkische und armenische Regierungsvertreter sollten ermutigt werden, den derzeit stagnierenden Normalisierungsprozess der zwischenstaatlichen Beziehungen beider Länder fortzuführen.”
  • “Ferner solle die Regierung dafür eintreten, dass die in jüngster Zeit begonnene Pflege des armenischen Kulturerbes in der Türkei fortgesetzt und intensiviert wird.”

Titelfoto: picturemaker123, pixabay

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