Was hat das Buch „Geopferte Landschaften“ mit dem Hunsrück zu tun?

Und was ist „Cevlek“?

Jörg Rehmann, Journalist, Mitautor und Fotograf des Bandes ✮ „Geopferte Landschaften“ zu einigen Hintergründen zweier Beiträge

Im Jahr 2013 stellte der berühmte Filmregisseur Edgar Reitz seinen Film ✮ „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“ vor. Fern ab aller Romantik beschreibt Reitz darin die Lebensgeschichte von Menschen im Hunsrück zu Zeiten der Adelsherrschaft. Als Landbesitz und Wald Ausdruck herrschaftlichen Feudalwesens waren, galten die Menschen mehr oder weniger als Leibeigene der Obrigkeit. An sie mussten die Bauern große Teile abgeben, so dass oft nicht mehr genug zum Überleben blieb. Vor allem in knappen Erntejahren waren die Menschen auf Wild, Holz und Früchte des Waldes angewiesen. Reitz schildert auf Basis historischer Recherchen, wie die Obrigkeit auch den Wald zum Mittel finaler Ausbeutung machte. Im Film steht der Baron von Gemünden für den Feudalherrn, unter dem die Menschen im Dorf Schabbach leiden. Schließlich wandern Zigtausende Menschen aus der rheinischen Provinz aus und werden in ihrer Suche nach sicherer Existenz oft noch Opfer unseriöser Geschäftemacher.

Unter dem Titel „Heimat – vom Windwahn verweht“ beschreibe ich Analogien der so genannten „Energiewende“ mit den Hintergründen der von Edgar Reitz beschriebenen, rheinischen Auswanderungswelle im 19. Jahrhundert.

Ein ganz anderes Szenario bildet die Erzählung „Cevlek“. Im Jahr 2013 lernte ich bei einem TV-Dreh für den englisch-arabischen Fernsehsender Al Jazeera den Hunsrücker Sabri Mete kennen. Bei der Frage nach seinem Bezug zum Soonwald erzählte er mir eine anrührende Geschichte. Sie hat mich in den Folgejahren in der Erinnerung immer wieder bewegt. Als die Frage an mich kam, etwas zu dem Band „Geopferte Landschaften“ beizutragen, erinnerte ich mich an ihn. Ich fasste den Entschluss, mir diese starke Geschichte von Sabri Mete noch einmal erzählen zu lassen. Aus sprachlichen Gründen beschlossen wir, dass er mir die Geschichte in aller Ausführlichkeit erzählt und ich diese anhand einer Tonaufzeichnung aufschreibe.

Sabri Mete kam mit 13 Jahren als Sohn türkischer „Gastarbeiter“ nach Argenthal. Doch schon in seiner frühesten Kindheit war er vom Erlebnis des Waldes in seiner türkischen Heimat nahe dem Taurusgebirge geprägt. Sein türkischer Wald war seine Abenteuer-, Erlebnis- und Traumwelt. Die Angst um die Trennung von seiner Heimat, und um den Verlust dieses Waldes sorgte dafür, dass der bevorstehende Umzug zu seinem in Deutschland lebenden Vater wie ein Damoklesschwert über ihm schwebte. Doch dann war der Soonwald schließlich der Grund, weshalb Sabri auch in der zweiten, deutschen Heimat einen Wald in sein Herz schließen konnte. In der Erzählung von Sabri Mete verschwimmen die Begrifflichkeiten des türkischen und des deutschen Waldes. Auf, wie ich finde, verzaubernde Weise verschmilzt der mythisch-romantisierte „Deutsche Wald“ mit einem vom Erzähler ganz anders und fremdartig beschriebenen, türkischen Landschaftsbild. Doch diese Verschmelzung führt beim Erzähler zur Entstehung eines neuen Waldbildnisses, in dem sich sein türkisches Abenteuerfeld mit dem heimischen Soonwald zu etwas neuem verwandelt. Es ist dies das durchwirkte und durchlebte Gefühl von HEIMAT, die sich erst durch das Erlebnis vom Lebensraum Wald manifestiert. Vor diesem Erfahrungshorizont vollzieht sich nicht nur die höchst gelungene Integration des hunsrücker Erzählers und seiner Familie in Deutschland. Nein, auch hier gibt es wieder jene Überlagerung, die den tatsächlichen Lebensweg des Erzählers Mete einerseits als ur-türkisch, und gleichzeitig als ur-deutsch erfahrbar macht. Dahinter aber steht die Erkenntnis, dass zum Heimatgefühl und damit zur Integration auch immer eine Identifikation mit einer archetypischen Landschaft gehört. Ohne sie keine Verantwortung für den Lebensraum, und ohne Verantwortlichkeit keine Integration. Nicht ganz beiläufig führt Mete’s Erzählung auch durch mehr als fünfzig Jahre deutscher Nachkriegsgeschichte, geprägt vom Segen und Fluch der Atomkraft bis hin zu den Entgleisungen der Energiewende, wie sie sich auch im Hunsrück manifestiert.

Sakamoto

Doch nach seinem Zuzug in Argenthal am Soonwald passierte dem Erzähler Sabri Mete als 17-jährigem etwas, das seine Liebe zum Wald – und ganz besonders zum Soonwald noch einmal zusätzlich steigerte. Und das hat mit einem Geheimnis zu tun, das der „ur-deutsche“ Soonwald birgt und das viele gar nicht wissen. Auch in diesem Geheimnis, das die alten Förster der Soonwaldregion tatsächlich noch bestätigen können, wird in der Erzählung noch einmal das Klischeebild des „Deutschen Waldes“ unscharf und geht über in einen größeren Heimatbegriff, der nicht regional, sondern universal angelegt ist.

Wer jetzt erst recht wissen will, was „Cevlek“ ist, liest ✮ „Geopferte Landschaften“,
bevor auch die dritte Auflage binnen knapp vier Wochen ausverkauft ist.

 

Vita Kurzfassung
Jörg Rehmann studierte Musik und Pädagogik. Seit 1988 ist er hauptberuflich als Journalist, Autor, Fotograf und Filmemacher tätig. Seine Kinodokumentation „Handlauf orange“ über ein künstlerisches Integrationsprojekt mit Jugendlichen bekam im Jahr 2011 zusammen mit dem iranischen Filmprotagonisten den Staatspreis für Integration des Landes Baden-Württemberg. Seine umfangreiche, fotografische und dokumentarisch-kritische Begleitung der Energiewende findet im In- und Ausland Würdigung und Niederschlag in zahlreichen Druckwerken.
www.joerg-rehmann.de

 

Foto: bpw , “Auf dem Saar-Hunsrück-Steig “, © www.piqs.de


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