“Ein System, das unbegrenzte Überziehungskredite zulässt, kann nicht überleben, weil es nicht zur Knappheit der Ressourcen in der Wirklichkeit passt. Es führt zwangsläufig zur Überdehnung der Ansprüche, bis es aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen zerbricht”, sagt Hans-Werner Sinn.
Der Target-Saldo der Bundesbank steige schon zehn Jahre lang und liegt nun ungefähr bei einer Billion Euro. Zyklisch habe sich der Wert von ca. € 70 Mrd. Ende 2007 auf den Wert von € 976 Mrd. Ende Juni 2018 hinbewegt.
Die Target-Salden sind im Euro-System begründet
Hans-Werner Sinn erklärt den Sachverhalt und das enorme Anwachsen der Target-Salden. Es ist im Eurosystem begründet, das keine Tilgung vorsieht. “So ist Deutschland zu einem Selbstbedienungsladen geworden, in dem man nach Belieben anschreiben lassen kann, ohne dass der Ladeninhaber seine Forderungen fällig stellen kann”, sagt Sinn. Lasten und Risiken würden für die Bundesrepublik Deutschland sichtbar, die niemals beabsichtigt gewesen seien, als der Maastrichter Vertrag geschrieben wurde und für die es keine demokratischen Beschlüsse gebe. Deutschland habe, finanziert durch das Target-System, Waren und Vermögenstitel hergegeben, für die die Target-Schuldner ihr ewig Zinsen zahlen müssen. “Wenn die Schuldner aber nicht zahlen können, wollen oder müssen, werden Deutschlands Target-Forderungen ausgehöhlt, wenn nicht vernichtet.”
1.000 Milliarden Euro – Totalverlust möglich
Die deutsche Target-Forderung stehe vollständig im Risiko, sollte der Euro zerbrechen. In diesem Fall sei damit zu rechnen, dass Deutschland seine gesamte Target-Forderung verliert, weil die Rechtsbasis der Target-Kredite für diesen Fall nicht definiert sei. “Wie erläutert wurde das Target-System nicht von den Parlamenten, sondern vom EZB-Rat selbst beschlossen, doch für den Fall der Beendigung des Eurosystems hat dieser Rat keine Vorkehrungen getroffen.”
Worst Case
Sämtliche Möglichkeiten, die Target-Salden zu senken würden die Interessengegensätze zwischen Deutschland, den internationalen Kapitalanlegern und den Schuldnerländern aufbrechen lassen, “wobei die letzten beiden Gruppen das derzeitige Selbstbedienungssystem natürlich am liebsten erhalten würden. Dennoch kann Deutschland niemandem die Diskussion der Optionen ersparen.” Sollten alle Versuche Deutschlands, aus der Target-Falle auszuscheren, nicht helfen, könne sich Deutschland nur noch durch einen Austritt aus dem Euro vor einer weiteren Erhöhung der Target-Salden schützen. “Die alten Forderungen wären dann zwar vermutlich verloren, doch kämen wenigstens keine neuen uneinbringlichen Forderungen hinzu”, sagt Hans-Werner Sinn.
In seinem Artikel beantwortet Sinn Fragen wie zum Beispiel: “Wie ist der Target-Saldo zu bewerten? Handelt es sich um einen irrelevanten Verrechnungsposten und um die selbstverständlichen Implikationen eines gemeinsamen Zahlungssystems? Oder geht es um echte Vermögenspositionen der Bundesrepublik und handfeste Budgetrisiken für den deutschen Staat, die durch die Übernutzung gemeinsamer Kassen verursacht wurden?”, aber auch zu der Frage: “Was tun?”
http://www.hanswernersinn.de/de/Target1000Mrd_17072018
Zur Person
Hans-Werner Sinn war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2016 Präsident des ifo Instituts, Direktor des Center for Economic Studies (CES) und Geschäftsführer der CESifo GmbH. Er gehört zu den forschungsstärksten deutschsprachigen Ökonomen. 2007 belegte er nach einer Zitations-Studie von Ursprung und Zimmer Platz 2 (alle Publikationen mit anteiligen Gewichten je nach Zahl der Autoren) und lag direkt hinter Nobelpreisträger Reinhard Selten. Für die britische Zeitung The Independent gehört Sinn wegen seiner Forschungen zum europäischen Zahlungssystem zu den zehn wichtigsten Menschen, die 2011 die Welt verändert haben.
Veröffentlichungen
Der breiten Öffentlichkeit wurde Sinn durch seine wirtschaftspolitischen Sachbücher Kaltstart, Ist Deutschland noch zu retten? und Kasino-Kapitalismus bekannt. Seine neuesten Bücher sind Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel sowie Der Schwarze Juni. Brexit, Flüchtlingswelle, Euro-Desaster – Wie die Neugründung Europas gelingen kann. Seine Forschungsschwerpunkte sind Steuern, Umwelt, Wachstum und erschöpfbare Ressourcen, Risikotheorie, Klima und Energie, Banken, Demographie und Sozialversicherung, Makro, Systemwettbewerb. In seiner Autobiografie Auf der Suche nach der Wahrheit, die Anfang 2018 anlässlich seines 70. Geburtstages erschien, blickt Hans-Werner Sinn auf seine biographische Prägungen zurück und zieht Bilanz seines Forscherlebens. Die Bücher sind bei Storchmann Medien erhältlich.
Zur Kurzfassung des Beitrags „Fast 1000 Milliarden Euro”, erschienen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Juli 2018.
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Titelfoto: stevepb