NZZ: “Deutschland bekommt Bürgerräte: Das klingt nach mehr Demokratie, ist aber ein Schwindel. Zufällig ausgewählte Bürger sollen den Bundestag in seiner Entscheidungsfindung unterstützen. Wirklich zu sagen haben sie allerdings nichts.”
Bürgerräte – neue Arbeitskreise der Bundesregierung?
Ausschließlich Abgeordnete sind dem Grundgesetz zufolge Vertreter und Vertreterinnen der Bürger und Bürgerinnen im Parlament. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Die wichtigsten Aufgaben des Bundestages sind die Gesetzgebung und die Kontrolle der Regierungsarbeit. Die 736 Abgeordneten entscheiden auch über den Bundeshaushalt und die Einsätze der Bundeswehr im Ausland.
Mit den Bürgerräten holt sich nach Ansicht des Vereins “Mehr Demokratie e.V. Haus der Demokratie und Menschenrechte” der Bundestag in neuer Form ein differenziertes und auf Alltagserfahrungen gestütztes Meinungsbild aus der Bevölkerung ein, das direkt in den Prozess der parlamentarischen Willensbildung einfließen kann. Damit seien die Bürgerräte für den Bundestag ein neues Beratungsinstrument im Rahmen der repräsentativen Demokratie. Die Bürgerräte sollen helfen, in Fragen von hoher gesellschaftlicher Relevanz zu erkennen, wo die Gesellschaft insgesamt stehe.
Zwar habe es seit 2019 bereits sieben bundesweite Bürgerräte gegeben, deren Träger zivilgesellschaftliche Organisationen oder einzelne Bundesministerien waren. Im Unterschied dazu seien die kommenden Bürgerräte die ersten mit einer direkten Anbindung an die gewählten Abgeordneten, heißt es auf der Homepage “buergerrat.de des Vereins “Mehr Demokratie”.
Eine Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild lehnt der Verein ab. Die direkte Demokratie würde Menschen- und Minderheitenrechte in Frage stellen und das Parlament unterlaufen. Die Schweiz sei hier gerade kein Vorbild für die direkte Demokratie in Deutschland, denn sie würde “die in Europa sonst überall schon erfolgte Versöhnung zwischen der Demokratie und den Menschenrechten” unterlaufen. .
„Gegenstand eines Bürgerrates können Richtungsentscheidungen, wertebasierte Konflikte, Priorisierungen oder Verteilungsfragen sein“, heißt es in der Ausschreibung weiter. Die Beratungen der Bürgerräte sollen in differenzierte Empfehlungen münden, die im parlamentarischen Prozess aufgegriffen werden könnten und auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz hoffen dürften.
Wozu sind eigentlich Abgeordnete da?
Gewählt: Zurzeit sitzen 736 gewählte Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Die Abgeordneten schließen sich zu Gruppen, Fraktionen, zusammen, gegenwärtig sind es sechs Fraktionen: SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, AfD und Die Linke.
Ausschüsse: Die Abgeordneten schicken je nach Fraktionsstärke von ihnen ausgewählte Mitglieder in die Arbeitsgruppen und Ausschüsse, in denen der wichtigste Teil der Abgeordnetenarbeit stattfindet. Die Ausschüsse bestehen aus 15 bis 42 Mitgliedern.
Die Ausschüsse bereiten in ihren nichtöffentlichen Sitzungen Gesetzentwürfe vor beziehungsweise besprechen sie im Detail.
Experten: Die Ausschüsse können öffentliche Anhörungen veranstalten und sich auf diese Weise über die Meinung außerparlamentarischer Experten zu grundlegenden Fragen informieren.
Unter-Ausschüsse: Jeder Ausschuss kann zur Vorbereitung und Unterstützung Unter-Ausschüsse bilden. Die Unter-Ausschüsse bereiten die Entscheidungen im Ausschuss vor.
Arbeitsgruppen: Parallel zu den Ausschüssen bilden die Fraktionen jeweils unterschiedliche Arbeitsgruppen. Sie bereiten die parteipolitischen und fraktionsinternen Linien für die Beratungen in den Ausschüssen und für die Plenarsitzungen vor.
Die Wahl von Abgeordneten ergibt nr dann einen Sinn, wenn sie in ihren Wahlkreisen mit den Bürgern und Bürgerinnen sprechen. In diesem Fall brauchen sie keine Bürgerräte, die ihnen helfen sollen, sich einen Überblick über die gesellschaftliche Relevanz bestimmter Themen zu verschaffen.
Genau dafür erhalten die Abgeordneten des teuersten Parlaments der Welt Diäten. Die Gesamtausgaben für den neuen Bundestag betrugen nach einer Aufstellung des Bundes der Steuerzahler 716 Millionen Euro im Jahr 2014. Der Bund erwartete für 2022 einen Anstieg auf 1,1 Milliarden Euro.
Wozu brauchen Bundestagsabgeordnete zusätzlich Bürgerräte?
Wozu brauchen Bundestagsabgeordnete zusätzlich Bürgerräte, wenn die Ausschüsse den Auftrag haben, “mit den aus den einzelnen Fraktionen bestellten Experten für die einzelnen Fachgebiete Kompetenzzentren aufzubauen, aus denen der größere Teil der jeweiligen Fraktion, der im betroffenen Fachgebiet keine überragenden Kenntnisse besitzt, Sachauskünfte einholen kann”?
“Egal ob Listenkandidat oder Gewinner eines Wahlkreismandats: Im Wahlkreis stehen die Abgeordneten den Bürgern Rede und Antwort. Regelmäßige Sprechstunden dienen dazu, die Probleme vor Ort zu kennen und die Interessen der Bürgerinnen und Bürger im Bundestag vertreten zu können”, behauptet die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb).
Wenn aber doch die durch die Wahl legitimierten Abgeordneten in ihren Wahlkreisen mit den Bürgern und Bürgerinnen sprechen und die Fragen in Ausschüssen, Unter-Ausschüssen und Arbeitsgruppen beraten, wozu dient darüber hinaus ein Bürgerrat, auf den sich die Bundesregierung nach Belieben berufen kann?
Titelbild: Tomasz_Mikolajczyk, pixabay