Küchenphysik vom WDR oder: Wie man die Angst bei Laune hält

Angst verfliegt durch Aufklärung, Phobien sind hartnäckig, sie verschwinden manchmal nur mit Hilfe von Therapien. Nichts wäre schlimmer für Gegner der Kernenergie als der Verlust der Angst vor radioaktiver Gefahr. Das brächte Weltbilder zum Schmelzen. In gewissen Abständen wird deshalb immer wieder die Gefahr eines atomaren GAUs beschworen. Mal ist es ein Nagel in der Betonwand eines Reaktors, wo er nicht hingehört, mal sind es Risse, oder es sind die Notkühlwasser. Dass vielen Menschen durch die Nuklearmedizin das Leben gerettet wurde, dass jede Industrie Gefahren birgt, zum Teil größere, als das Risiko durch einen GAU zu sterben oder durch radioaktive Strahlen an Krebs zu erkranken, dass bis zu 40.000 Menschen jährlich durch Krankenhauskeime ihr Leben verlieren, ist für fundamentale Kernenergiegegner im Vergleich zu den Risiken von Kernkraftwerken ohne Bedeutung, obwohl kein Industriebauwerk besser bewacht, besser kontrolliert und transparenter sein dürfte. Die Relationen sind längst verloren gegangen, wie auch jetzt wieder beim Thema Vorheizen des Notkühlwassers.

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In seiner jüngsten Kritik an Kernkraftwerken vermutet der für WDR und ARD tätige Journalist Jürgen Döschner, dass in zahlreichen Atomkraftwerken in Europa übermäßige Alterung und Materialfehler die Stabilität der Reaktordruckbehälter beeinträchtigen. Nach Recherchen von WDR und “Süddeutscher Zeitung” (SZ) sei in mindestens 18 aktiven Atomreaktoren in Tschechien, Belgien, Frankreich, Finnland und der Slowakei das Notkühlwasser auf bis zu 60 Grad Celsius vorgeheizt worden. Dadurch solle offenbar das Risiko verringert werden, dass der stählerne Reaktordruckbehälter reißt, wenn er bei einem Störfall mit zu kaltem Wasser gekühlt wird. Die Folge eines solchen Bruchs könnte eine Kernschmelze sein, sagt Döschner.

Dr. Anna Veronika Wendland erläutert, was dran ist am neuesten nuklearen Aufreger.

Die Historikerin Dr. Anna Veronika Wendland, Herder-Institut in Marburg, forscht zur Geschichte von Atomstädten und kerntechnischen Sicherheitskulturen. Ab und zu arbeitet sie dafür auch in Kernkraftwerken. Diesen Artikel hat sie zwischen zwei Spätschichten im KKW Grohnde im schönen Weserbergland geschrieben.

Breaking News: Wenn ich eine heiße Auflaufform aus dem Ofen nehme und sie kalt abschrecke, kann sie springen. Daher benutze ich warmes Wasser. WDR und Süddeutsche Zeitung haben diesen Effekt gerade entdeckt und Experten befragt, welche den sofortigen Produktionsstopp von Auflaufformen aus Glas fordern: zu gefährlich. Die Leute könnten ja fahrlässig doch kaltes Wasser wählen.

So ähnlich liest sich die angebliche Enthüllung des oben genannten Recherchenetzwerks über »marode Kernkraftwerke«, die man daran erkenne, dass ihr Notkühlwasser »offensichtlich« vorgeheizt werden müsse. Andernfalls könnten Risse im Reaktordruckbehälter entstehen. Aber wie soll man denn dann noch kühlen, wenn selbst das Notkühlwasser warm ist?

Physikkenntnisse? Nein danke!

Die Lösung liegt da, wo der WDR nicht gerne seine Nase hineinsteckt: in der Fachliteratur zur Kern- und Verfahrenstechnik. Bei 310 Grad Celsius mittlerer Kühlmitteltemperatur im Primärkreislauf eines Druckwasserreaktors sind auch 50 – 60 Grad Not»kühl«wasser zwar zu heiß für die Badewanne, aber nicht zu warm für einen Kernreaktor nach seiner Abschaltung. Dieses Wasser nimmt im Notkühlfall – wenn also ein Leck überspeist werden muss oder aus anderem Grunde die übliche Wärmeabfuhr über die Dampferzeuger nicht genutzt werden kann – immer noch genügend Wärme zur Abfuhr der Nachwärme aus dem Reaktorkern auf. Sie wird vom Notkühlsystem über Zwischen- und Nebenkühlsysteme weiter abgeführt.

Ich warte darauf, dass der WDR Anstoß an der Bezeichnung »Kühlmittel« für das Primärkreislaufwasser im Normalbetrieb nimmt, da eine Temperatur von mehr als 300 Grad doch nicht mehr als kühl zu bezeichnen seien. Und genau hier treffen wir auf ein Grundproblem unserer Berichterstattung: Menschen ohne solide physikalisch-technische Wissensbasis holen sich Experten, die ihnen nach dem, wie sie finden, kritischen Munde reden, und bringen das Ergebnis dann als alltagssprachliche Küchenlogik unters Volk. Denn gegen Kernkraftwerke zu sein entspricht in dieser Logik ja auch, auf der guten Seite zu sein, auf der Seite der kritisch-nachfragenden Neinsager nämlich.

Jedoch sind es eigentlich Jasager, mit denen wir es zu tun haben: Jasager im Mainstream des Antiatom-Diskurses. Denn bis heute gehört der nukleare Alarmismus und das Schwarz-Weiß-Denken der 1980er zum guten Berichtston, obwohl die Kerntechnik längst über den Stand dieser Zeit hinaus ist – und der Lieblingsfeind, die deutsche Atomlobby, längst das Zeitliche gesegnet hat. Unsere Atom-Alarmisten hängen zudem der Doktrin an, derzufolge nur eine hundertprozentig risikofreie Technologie akzeptabel sei. Gibt es ein Risiko? Dann wäre diese Technologie besser nie in die Welt gekommen.

In unseren Redaktionen, deren kerntechnische Grundkenntnis sich in der Regel auf die Schullektüre von Gudrun Pausewangs Nuke-Porns für den bundesdeutschen Opferdiskurs beschränkt, reicht daher die Nachricht vom Notkühlwasser, das gar nicht kalt ist, für die Auslösung des nuklearen Notstands.

Worum es wirklich geht

Kernquerschnitt eines VVER-440-Reaktors mit Dummie-Brennelementen (grau) an den Außenpositionen nahe der Druckbehälterwand
Kernquerschnitt eines VVER-440-Reaktors mit Dummie-Brennelementen (grau) an den Außenpositionen nahe der Druckbehälterwand

Worum es dabei wirklich geht: Bei erhöhter Versprödung des Stahls infolge Neutronenbeschusses ist die Vorwärmung des Notkühlwassers in vielen Anlagen eine normale Vorkehrung, so im östlichen Europa, wo die Kernkraftwerke mit VVER-Druckwasserreaktoren sowjetischer Bauart ausgerüstet sind. Aufgrund eines (im Vergleich zu den heute bei uns laufenden Konvoi- und Vorkonvoi-Anlagen) schmäleren Wasserspalts zwischen Reaktorkern und Druckbehälterwand ist insbesondere in den VVER-440-Anlagen die Neutronenfluenz und damit auch die Versprödungsgeschwindigkeit höher. Wer sich zur materialwissenschaftlichen Seite dieser Problematik detaillierter informieren möchte, dem sei der Beitrag der Nuklearia zum Fall der belgischen Anlagen Tihange und Doel (»Belgische Rissreaktoren«) empfohlen.
Es gibt in solchen Fällen höher versprödeter Komponenten mehrere Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen: materialschonende Fahrweisen der Anlage, eine spezifische Beschickung des Reaktorkerns mit Brennelementen, und Maßnahmen zur Regenerierung des Reaktordruckbehälters. In Osteuropa werden alle drei Ansätze verfolgt: Man beheizt die Flutbehälter für das Notkühlsystem, man stellt auf die Außenpositionen im Reaktorkern Brennelement-Dummies aus Stahl, die die Strömungseigenschaften des Kerns erhalten, aber den Neutronenbeschuss des Druckbehälterstahls verringern, und man regeneriert den Reaktorstahl.

Wie regeneriert man einen Reaktordruckbehälter? Das ist eine wichtige Frage, denn der Reaktordruckbehälter (RDB) ist eine der wenigen Komponenten eines Kernkraftwerks, die nicht redundant, das heißt, in mehrfacher Ausführung vorhanden sind. Seine Integrität ist folglich das K.O.-Kriterium für die Laufzeit der Anlage. Daher werden in älteren osteuropäischen Anlagen die Reaktordruckbehälter einer sogenannten Wiederholungsglühung unterzogen. Der Reaktor wird entladen, und an das leere Druckgefäß wird ein Aggregat montiert, das den Behälterstahl für rund 150 Stunden auf eine Temperatur von ca. 475 Grad Celsius bringt. Diese Wärmebehandlung erneuert die kristallinen Binnenstrukturen des Werkstoffs, welche durch den Neutronenbeschuss verändert wurden, was zur Versprödung und damit höherer Empfindlichkeit für Temperaturschocks geführt hatte. Die Wiederholungsglühung beseitigt diesen Effekt und stellt das ursprüngliche Elastizitätsverhalten wieder her.

Osteuropa hat also eigentlich eine gute Strategie zur Erhöhung der Komponentensicherheit gefunden – was natürlich gar nicht zu den von deutschen Journalisten in solchen Zusammenhängen gerne produzierten Klischees von instabilen Staaten, autoritärer Herrschaft und maroden Industrieanlagen passt.

Eigentlich ist das Gegenteil der Fall: Während sich westliche Betreiber mit den anlagenschonenden Ansätzen begnügen – so z.B. im Falle des inzwischen stillgelegten schwäbischen KKW Obrigheim – geht Osteuropa unter russischer Technologieführerschaft seit Jahren neue Lösungswege, und – auch nicht unwichtig – setzt zudem in Neubauten sicherheitstechnisch fortgeschrittene Reaktorkonzepte in die Tat um.

Anlagenschonende Ansätze wiederum sind kein Ausweis für die Instabilität eines Systems. Es gibt sie überall in der Verfahrenstechnik. Man wärmt Systeme vor oder schaltet sie auf eine bestimmte Weise, um beispielsweise Kondensationsschläge in Rohrleitungen oder Materialschäden durch zu steile Temperaturgradienten zu verhindern. Niemand würde auf die Idee kommen, solche Anlagen in der Chemieindustrie oder auch in Kohle- und Gaskraftwerken nicht mehr zu betreiben, weil es ohne schonende bzw. vorgeschriebene Fahrweise zu Problemen kommen könnte.

Die Experten, die vom WDR befragt wurden, sehen das anders – denn sie können gar nicht anders. Sie sind auf jener Linie, dass nur ein nie gebautes KKW ein sicheres sei, und haben als Gutachter von Ökoinstituten und als Ministeriale unter Rot-Grün diese Politik in Berichte und Rechtstexte umgesetzt. Da kann man auch die AfD als alleinige Experten für Migrationspolitik anhören – aber diese Reportage muss erst noch geschrieben werden.

Die wahre Enthüllung wartet noch

All den Alarm-Experten sei jedoch versichert: Die wirkliche Enthüllung wartet noch auf einen aufmerksamen Rechercheur – jene über die akut drohenden Versorgungs- und Umweltrisiken im Zuge einer fehlgeplanten Energiewende, an der die Öko-Experten gut mitverdienen.

Die 25 Milliarden Euro pro Jahr, welche dieses Experiment am offenen Energieherzen unserer Industriegesellschaft kostet, wären anderweitig besser investiert. Denn man kann Europas alternden Reaktorpark entweder durch Kohlekraft und Chaos ersetzen, wie es Deutschland macht, oder durch bessere Kernkraftwerke.

Dr. Anna Veronika Wendland

Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa-Historikerin und Forschungskoordinatorin am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. Sie forscht zur Geschichte von Atomstädten und nuklearen Sicherheitskulturen in Ost- und Westeuropa, unter anderem auch im Zusammenhang des transregionalen Sonderforschungsbereiches SFB-TRR 138 »Dynamiken der Sicherheit« der Universitäten Marburg und Gießen sowie des Herder-Instituts, in dem es um Versicherheitlichungsprozesse von der Antike bis zur Jetztzeit geht. Sie ist Vorstandsmitglied des Nuklearia e. V.

Titelbild: OpenClipart-Vectors, pixabay


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