Beobachtungen aus dem Revier
Pflege

1000 Sozialpunkte für Oma selber pflegen

Dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) schwebt vor, Sozialpunkte als Anreiz zur Verhaltensänderung sammeln zu können. So soll z. B. jemand für die Ausübung eines Ehrenamtes, die Pflege Angehöriger, Organspenden, Altersvorsorge, Verkehrsverhalten, CO 2 -Abdruck im Punktesystem, das vom Staat betrieben wird, mit Sozialpunkten belohnt werden.

Sozialpunkte sammeln

Die Idee, Sozialpunkte zu sammeln, ist Teil des Projektes Vorausschau, das das BMBF am 28. Juni der Öffentlichkeit vorgestellt hat. (Wertestudie Langfassung) In den 2030er Jahren soll in Deutschland “ein digitales, partizipativ ausverhandeltes Punktesystem” beginnen, das “Anreize zur Verhaltensänderung” setzt.

Nachdem weltweit über den Aufstiegs Chinas und seines Punktesystems als Instrument der Politiksteuerung “mit einer Mi­schung aus Bewunderung und Ablehnung kontrovers diskutiert” worden sei, habe sich in Deutschland die Politik dafür entschieden, mit einem zentralen digitalen Punktesystem zu arbeiten, das demokratischen Spielregeln folgt, auf Bonusanreizen beruht, die Bürgerinnen und Bürger einbindet – und auf freiwillige Teilnahme setzt. (Langfassung, S. 124)

Gelockt werden die Bürger mit Vorteilen des Punktesammelns, wozu soziale Anerkennung, Vorteile im Alltag (z. B. verkürzte Wartezeiten für bestimmte Studiengänge) gehören. Durch “personalisierte Risikoprämien” von Unternehmen stellen die Verfasser der Studie den Bürgern auch finanzielle Vorteile in Aussicht.

Das Punktesystem verspricht auch den Politikern Vorteile, zum Beispiel als Instrument für den Arbeitsmarkt, Verteilung und Integration von Asylbewerbern­ (hohe Punkte als starke Anreize für anerkannte Asyl­bewerber, in ländliche Regionen mit Arbeitskräftemangel umzuziehen) und für die europäische Binnenmigration.

Dies alles und noch viel mehr werde “auch durch gezielte gemeinsame Forschungsanstrengungen der EU im Bereich der künstlichen Intelligenz ermöglicht. Sie werde zu “einer höheren Akzeptanz bei der Implementierung dieser Systeme zur Politiksteuerung” führen.


Schrittweises Umerziehungsprogramm

“Zugleich werden im Deutschland der 2030er Jahre durch das Punktesystem als Prognose- und Steue­rungswerkzeug schrittweise neue Normen im Alltag verankert”, prognostizieren die Verfasser der Studie.

Davon, dass die Mehrheit sich systemkonform verhalten wird, gehen die Verfasser aus. Das Punktesystem stoße bei einer “Mehrheit der Bevölkerung in den 2030er Jahren auf Zustimmung, da es nach dem Empfinden vieler in einer komplexeren und ausdifferenzierteren Gesellschaft eine verbindende Orientierungsfunktion für verschiedene gesellschaftliche Gruppen einnimmt. Zugleich werden im Deutschland der 2030er Jahre durch das Punktesystem als Prognose- und Steue­rungswerkzeug schrittweise neue Normen im Alltag verankert.”

Es ist nicht vorgesehen, dass die Bürger über Kernfragen abstimmen, sondern nur über die Art der Ausführung beschlossener und von der Regierung als “Megatrend” diagnostizierter Abläufe. Unter dieser Bedingung dient die versprochene Partizipation, etwa durch “Digital Liquid Democracy”, ausschließlich als ein Kontroll- und Bestätigungsprogramm für die Politik und als ein Beschäftigungsprogramm für die systemkonforme Bevölkerung.

Politisch sind die wesentlichen Entscheidungen ohne Beteiligung der Bevölkerung bereits gefallen. Eines der aus Sicht der Politik nicht diskutablen Themen ist zum Beispiel der Klimawandel. In der fiktionalen “Vorausschau” wird er als gegeben vorausgesetzt. Angenommen wird, dass durch die “Dynamik des Klima­wandels” ein “Handlungsdruck zum Gegensteuern” erzeugt wird.

Wenn die Bevölkerung dazu gebracht werden kann, an die drohende Zerstörung der Erde durch den angeblich menschengemachten Klimawandel zu glauben, können die Verfasser der Studie mit gutem Grund davon ausgehen, dass die Bevölkerung ein Punktesystem als effizienten Steuerungsmechanismus zum Umgang mit den Folgen des Klimawandels akzeptieren wird, z. B. durch Punktebewer­tung des ökologischen Fußabdrucks.

Die Denkfabrik des BMBF versteht die Einteilung in Schuldige und Nicht-Schuldige als Transparenz: “Das Verursacher­prinzip wurde durch das Punktesystem transparent ge­macht.” (S. 124).

Das Ziel wird nicht verschwiegen. Das Internet ermöglicht jedem Bürger, sich über die Absichten seiner Regierung zu informieren. Er kann ohne großen Aufwand erfahren, dass Staat und politische Institutionen “bestimmte Ziele über Anreize zur Verhaltensänderung verwirklichen (z. B. Steuerung des Arbeits- und Bildungsmarkts)” wollen. Es geht der Bundesregierung nicht nur um wissenschaftliche Prognosen, sondern darum, die Ressource Bevölkerung optimal zu nutzen.

Die Dauerabgehängten

Das Punktesystem wird nach Ansicht der Verfasser in Zukunft grundsätzlich nicht mehr in Frage gestellt werden. Nur bei einer Minderheit, die sich in ihrer Position nicht repräsen­tiert sehe, gebe es “immer wieder heftige und emotionale Debatten über die konkrete Ausgestaltung und Anpassung des Systems, die mittels digitaler Direkt­demokratie zur Abstimmung gestellt werden – und zugleich auch vor den Gerichten ausgefochten werden.”

Die Warnung davor, dass eines Tages ein Unternehmen oder eine staatliche Institution die verschiedenen Datenbanken zu einem einzigen Sozialen-Kredit-Score zusammenführen (Gerd Gigerenzer), wird, hatlten die Verfasser entgegen, dass die Logik (digitaler) Punktesysteme bereits fest im Alltag verankert sei, beispielsweise im Credit-System des Bologna-Prozesses der europäischen Hochschulreform, durch “grüne Hausnummern“ (Die grüne Haunummer), die man bekomme, wenn man ein nachhaltiges Leben führt. Außerdem habe sich herausgestellt, “dass Menschen aus Bequemlichkeit gerne ihre Daten herausgeben und es akzeptieren, ihre Freiheit bzw. Kontrolle einzuschränken”.

Darüber hinaus habe der Versicherungskonzern ERGO in einer 2019 veröffentlichten Studie herausgefunden, dass es jede bzw. jeder Fünfte in Deutschland begrüßen würde, “wenn in Deutschland ein Sozialkredit-system ähnlich wie in China eingeführt würde”.

Abschließend erklären die Verfasser: “Einer These von Ivan Krastev zufolge könnte die COVID-19-Krise die Attraktivität von auf Big Data basierendem Autoritarismus, wie ihn die chinesische Regierung pflegt, steigern, da man hier die Effizienz der Antwort und die Fähigkeit des chinesischen Staates gesehen hat, die Bewegungen und Verhaltensweisen seiner Bevölkerung zu kontrollieren.”

Konflikte werde es zukünftig nur noch mit den „Dauerabgehängten“ geben, denen es schwer falle, niedrige Punktestände wieder auszugleichen. Wer das Sozialpunktesystem grundsätzlich nicht akzeptiert, ist offenbar in Zukunft nicht mehr existent; er wird nicht mehr erwähnt.

Der Wandel des BMBF zur Ideologieschmiede

Wenn eine Bankkauffrau und Hotelmanagerin nach einem Studium der Betriebswirtschaftslehre an der FernUniversität in Hagen berufsbegleitend zur Diplom-Kauffrau avanciert, einige Jahre für die CDU als Mitglied des Finanzausschusses, stellvertretendes Mitglied im Haushaltsausschuss, Mitglied im Tourismusausschuss tätig war und daran anschließend mit der Leitung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) betraut wurde – denken Sie, dass dieser Werdegang tatsächlich der Wissenschaft oder nicht eher anderen Zwecken zugute kommt?

Nachzulesen sind die zukunftsweisenden Vorstellungen des BMBF in der Studie “Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land”. Es handelt sich um eine “strategische Vorausschau”, die nicht nur dazu gemacht wurde, um einen Blick in die mögliche Zukunft nach 2030 zu werfen oder zu “zeigen, welche Zukünfte möglich sind”.

Das BMBF will “die richtigen Weichen zu stellen, um künftigen Herausforderungen frühzeitig zu begegnen.” Zwar heißt das Projekt “Vorausschau”, aber es geht um Planung, Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung, wie dem Flyer zu entnehmen ist. “Doch ganz planlos müssen wir nicht in Richtung Zukunft marschieren. Denn schon heute gibt es Trends, die zeigen, wie es in den nächsten zehn bis 20 Jahren weitergehen könnte.” (Flyer “Vorausschau: Orientierung für die Welt von morgen”)

Koordiniert und gesteuert wird die “Vorausschau” für 83 Millionen Bundesbürgern von einem “Zukunftsbüro “, das die “Strategische Vorausschau” operativ durchführt. Der “Zukunftskreis”, der sich aus derzeit 17 “Expertinnen und Experten” zusammensetzt, berät das BMBF bei der Entwicklung und Auswahl von Themenfeldern und den daraus folgenden Aktivitäten.

Methodik

Die “Strategische Vorausschau” legt “Megatrends” zugrunde, die zuvor ohne öffentliche Diskussionen bereits festgelegt wurden. Dazu gehören beispielsweise der Klimawandel und die digitale Transformation. Als Megatrends gelten globale Veränderungen, die weltweit über einen langen Zeitraum wirksam sind und daher einen belastbaren Orientierungsrahmen bieten.

In die Zukunft projiziert und auf der Grundlage dieser Projektion gesellschaftlich relevante Maßnahmen zu veranlassen, bedeutet, dass diese Maßnahmen zwangsläufig zu einer self-fulfilling prophecy führen. Die Vorausschau in eine mögliche Zukunft hat einen entscheidenden Einfluss auf die Zukunft und ist die wesentliche Ursache dafür, dass diese Zukunft auch eintritt. Die Menschen werden dazu gebracht, an die Vorausschau zu glauben und die Grundlagen dafür nicht mehr zu hinterfragen. Es war der Sieg der Corona-Strategen, mit den Mitteln der Vorausschau einen großen Teil der Bevölkerung zum Verzicht auf ihre Grundrechte zu bewegen.

Die Bevölkerung wehrt sich mehrheitlich auch nach 18 Monaten nicht gegen die Maßnahmen und folgt trotz wachsender Kritik von Fachleuten blind den Durchhalteparolen. „Wir dürfen jetzt nicht nachlassen“, mahnte RKI-Präsident Lothar Wieler am 28. Juli 2020 auf einer Pressekonferenz. Die AHA-Regeln dürften nicht mehr hinterfragt werden, man werde sich wohl noch monatelang daran halten müssen.

Dr. Christian Grünwald und Cordula Klaus haben gemeinsam die Projektleitung des Zukunftsbüros. Sie verwenden verschiedene Methoden, mit denen sie versuchen, mögliche Zukunftsentwicklungen zu erschließen. “Eine sehr etablierte Methode ist da die Szenario-Technik, wo wir also verschiedene Szenarien, mögliche und plausible Zukunftsbilder entwickeln. Und da wiederum haben wir uns dann angeschaut, wohin sich Deutschland in den nächsten zehn bis 20 Jahren entwickeln könnte – auf begründeten Annahmen von heute. Und das wiederum ermöglicht es uns dann, daraus auch wieder Rückschlüsse zu ziehen, wohin sich die Wertelandschaften in den nächsten zehn bis 20 Jahren entwickeln könnten.“

Es werde mit sechs Szenarien gearbeitet, sagt Christian Grünwald. “Der europäische Weg” sei ein Szenario, wo es zu einer Europäisierung komme. “Wo wir also eine sehr starke EU haben, die auch selbstbewusst auftritt im globalen Wettbewerb und eben eine sehr eigenständige und zukunftsgerichtete Politik verfolgt. Ein anderes Szenario, das sehr, sehr spannend war für uns zu durchdenken, war, was passiert eigentlich, wenn man ein digitales Bonussystem zur Politiksteuerung hat und das Ganze in einem demokratischen Kontext. Wie sähe dann die Gesellschaft aus und wie sehen dann mögliche Wertelandschaften aus.”

Eine Studie über „Werte“ und wie sich diese in Zukunft verändern können, ist die erste und bereits begonnene Vertiefungsaktivität des aktuellen Vorausschau-Prozesses. Die abschließenden Ergebnisse der Strategischen Vorausschau werden voraussichtlich im Jahr 2022 vorliegen.

Downloads

Pressekit Wertestudie zip (27MB)

Wertestudie Langfassung PDF (17MB)

Wertestudie Kurzfassung PDF (5MB)

Wertestudie Kurzfassung (english) PDF (5MB)

50 Themenblätter (Juli 2020) PDF (2MB)

Flyer “Vorausschau: Orientierung für die Welt von morgen” PDF (2MB)

Pressemappe_Strategische_Vorausschau zip (2MB)


Dr. Christian Grünwald verantwortet den Bereich Public Foresight bei z-punkt.de, einem international tätigen Beratungsunternehmen für strategische Zukunftsfragen, dessen Kundenliste sich wie ein WHO’s WHO der deutschen Wirtschaft liest.
Grünwald schloss sein Studium in Politik- und Religionswissenschaft ab.

Zusammen mit Z_punkt betreut Prognos das Zukunftsbüro im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

Titelbild: sabinevanerp, pixabay

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