Eine wissenschaftliche Studie der London School of Economics weist den Medien eine Wandlung vom „Wachhund“ zum „Kampfhund“ nach. Am Beispiel des Aufstiegs Jeremy Corbyns als Kandidat für die Labour-Führung und als neuer Führer der größten Oppositionspartei in Großbritannien sei festzustellen, dass Corbyn als politischer Akteur von dem Moment an delegitimiert worden sei, als er ein prominenter Kandidat und noch mehr, nachdem er mit einem starken Mandat als Parteiführer gewählt worden sei. Dieser Prozess der Delegitimierung habe in mehrfacher Hinsicht stattgefunden, 1. durch fehlende oder Verzerrung der Stimme, 2. durch Spott, Hohn und persönliche Angriffe und 3. durch die Verbindung vor allem mit dem Terrorismus.
Die Autoren sehen diesen wandel und die Einseitigkeit der Berichterstattung als Gefahr für demokratische Prozesse. Darüber hinaus soll dieses Projekt auch einen Beitrag zur laufenden öffentlichen Debatte über die Rolle der Mainstream-Medien und Journalisten in einer mediengesättigten Demokratie leisten.
Der Journalist Ulrich Teusch, dessen Beobachtungen sich mit denen der Studie decken, bezeichnet diesen Wandel in den Medien als “Lückenpresse”. Das könne man zum Beispiel bei geopolitischen Konflikten beobachten, in die „der Westen“ involviert ist. In seinem im September erschienenen Buch “Lückenpresse” finde sich da einiges etwa zur Russland- oder Syrienberichterstattung.
Im Gespräch mit Paul Schreyer, 9. September 2016, erklärt Ulrich Teusch, warum der Begriff „Lügenpresse“ wenig tauge, um das eigentliche, das systemische Problem zu erfassen, das in den medialen Besitz- und Kontrollverhältnissen bestehe. Lügen tauchten immer wieder auf, insbesondere dann, wenn Politiker die Unwahrheit sagten und Medien diese dann als Nachrichten verbreiteten. Der Bush-Administration seien im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg im Jahr 2003 insgesamt 935 Unwahrheiten nachgewiesen worden. Viele dieser Lügen seien ganz selbstverständlich und ohne kritische Prüfung gedruckt und gesendet worden. Die desaströsen Folgen seien bekannt.
Teusch verweist auf einen „Mainstream außerhalb des Mainstreams“, “ein minoritäres Segment”, das sich auf dem Rückzug befinde und aufpassen müsse, “dass es nicht völlig an die Wand gedrückt” werde. Dieses minoritäre Segment habe insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk “noch seinen Platz”. Dazu zählt Teusch Kulturwellen des Hörfunks und TV-Programme wie Arte. Deren Journalisten hätten sich nichts zuschulden kommen lassen, würden aber mit anderen über einen Kamm geschoren.
Das eigentliche Problem sind für Teusch nicht Lügen, sondern Lücken. Die entstehen zum Beispiel, wenn bestimmte Nachrichten regelrecht unterdrückt werden; das wären dann Lücken im Wortsinn. Der Begriff bezieht sich aber auch auf die Nachrichtengewichtung. Die eine Nachricht wird künstlich hochgespielt, die andere wird zwar irgendwo gemeldet, aber bewusst unten gehalten. Oder auf die Kontextualisierung von Nachrichten: Die eine Nachricht wird tendenziös eingebettet, mit einem „spin“ versehen, die andere nicht. Und so weiter. Und dann gibt es die „double standards“, also das Messen mit zweierlei Maß. All diese Mechanismen verstärken sich wechselseitig, und wenn sie in schöner Regelmäßigkeit auftreten oder sich bei bestimmten Themen zu einem flächendeckenden Phänomen auswachsen, entstehen Narrative, also große journalistische Deutungsmuster oder Erzählungen. In diese Narrative werden dann alle neu einlaufenden Informationen eingeordnet. Wenn sie ins Narrativ passen, ist ihnen Aufmerksamkeit gewiss, falls nicht, trifft sie das Lückenschicksal.”
Das vollständige Interview ist HIER zu lesen.
Prof. Dr. Ulrich Teusch lebt als freier Publizist in Edermünde bei Kassel. Er schreibt Sachbücher und ist Hörfunkautor. Für sein SWR-Feature “Nicht schwindelfrei – Über Lügen in der Politik” erhielt er 2013 den Roman-Herzog-Medienpreis. Im Dezember 2015 lief dann sein viel beachtetes Feature im SWR mit dem Titel “Vertrauen ist gut … Die Medien und ihre Kritiker”. Bücher zuletzt: “Die Katastrophengesellschaft: Warum wir aus Schaden nicht klug werden” und “Jenny Marx: die rote Baronesse” und das MP3 Hörbuch (Download): “Nicht schwindelfrei“.
Foto: LUM3N, pixabay
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