Die Schwelle zur Barbarei sei durch den Verzicht auf die Freiheit überschritten worden, sagt der italienische Jurist, Philosoph und Autor Giorgio Agamben. Der Ausnahmezustand, mit dem gegenwärtig die Welt regiert werde, sei in Zukunft die Regel. Ein Zurück werde es nicht mehr geben. Wichtige Kontrollinstitutionen, die Kirche und die Juristen, schweigen.
Die Schwelle zur Barbarei ist überschritten
Giorgio Agamben ist ein italienischer Philosoph und Autor, der viel zum Thema des Ausnahmezustandes publiziert hat. Er wurde 1942 in Rom geboren.
Die Schwelle, welche die Menschlichkeit von der Barbarei trennt, sei überschritten worden, sagt Agamben. “Und zwar, ohne dass man dies bemerkt hätte oder indem man so tat, als würde man es nicht bemerken.” Insbesondere die Kirchen und Juristen hätten dies bemerken müssen, sagt Agamben. Er beschuldigt sie in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) wegen ihres unverzeihlichen Schweigens.
Das Schweigen der Kirchen
Die Kirche habe “unter einem Papst, der sich Franziskus nennt” vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte. Sie habe sich zur Magd der Wissenschaft, der “neuen Religion unserer Zeit”, gemacht und ihre wesentlichen Prinzipien radikal verleugnet. “Sie hat vergessen, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin besteht, die Kranken zu besuchen. Sie hat vergessen, dass die Martyrien die Bereitschaft lehren, eher das Leben als den Glauben zu opfern, und dass auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten.”
Das Versagen der Juristen
Es seien Grenzen überschritten worden, sagt Agamben, “und man hat den Eindruck, dass die Worte des Ministerpräsidenten und des Chefs des Zivilschutzes unmittelbare Gesetzkraft haben, wie man dies einst von den Worten des Führers sagte.” Es sei die Aufgabe der Juristen, darüber zu wachen, dass die Regeln der Verfassung eingehalten werden, “doch die Juristen schweigen”. Seine Frage an die Juristen wird von ihnen vermutlich nicht beantwortet werden:
“Quare siletis iuristae in munere vestro? (Warum schweigt ihr, Juristen, wenn es um eure Aufgabe geht?)”
Das neue Organisationsprinzip der Gesellschaft
Die Annahme, dass die Einschränkungen bürgerlicher Rechte vorübergehend seien, sei ein Irrtum, sagt Agamben. Es sei wirklich einmalig, dass man dies wider besseres Wissen dauernd wiederholt.
“Denn dieselben Behörden, die den Notstand ausgerufen haben, erinnern uns ständig daran, dass dieselben Weisungen auch nach dem Ende des Notstands zu befolgen seien und dass das Social Distancing – wie man es in einem vielsagenden Euphemismus nennt – das neue Organisationsprinzip der Gesellschaft darstelle. Und dass das, was man – guten Glaubens oder wider besseres Wissen – zu ertragen akzeptiert hat, nicht rückgängig gemacht werden könne.”
Giorgio Agamben möchte mit denjenigen, die Lust dazu haben, eine Frage teilen, über die er seit einem Monat unablässig nachdenke.
“Wie konnte es geschehen, dass ein ganzes Land im Angesicht einer Krankheit ethisch und politisch zusammenbrach, ohne dass man dies bemerkte?”
Sein Schlusswort lautet:
“Eine Norm, die besagt, dass man auf das Gute verzichten müsse, um das Gute zu retten, ist ebenso falsch wie die, welche verlangt, dass man auf die Freiheit verzichten müsse, um die Freiheit zu retten.”
Angela Merkel: Ihr Kampf
Die Bundeskanzlerin Angela Merkel kündigte am 23.01.2020 beim Weltwirtschaftsforum in Davos „Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß“ an. „Die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns angewöhnt haben, werden wir in den nächsten 30 Jahren verlassen“, sagte Merkel mit Blick auf Klimaschutz und Digitalisierung.
Die deutschen Politiker schweigen oder stimmen Angela Merkel zu.
In Deutschland gebe es eine große Gruppe von Menschen, die das nicht für so dringlich halte, sagt die Bundeskanzlerin. „Die ist noch nicht überzeugt, dass dies das Allerwichtigste ist. Und wie nehmen wir die mit?“ Die Bundeskanzlerin ist überzeugt: „Demokratien haben die Aufgabe, den einzelnen Menschen mitzunehmen und ihn für etwas zu begeistern.“
Sie definiert unumwunden die Demokratie nach Patriarchen- oder Diktatorenart. Fällt dies unseren Abgeordneten nicht auf? Wieviel Nähe besteht bereits zu Hitlers Propagandachef Goebbels, der 1942 über die Hitler-Diktatur schrieb: „Wir Deutschen leben in einer wahren Demokratie“?
Das Grundgesetz, auf dem die freiheitliche demokratische Grundordnung in Deutschland basiert, sieht das Gegenteil von Angela Merkels Worten und Taten vor: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, lautet Artikel 20 GG. Er lautet nicht: „Alle Staatsgewalt geht von einem durch die Führerin wohlerzogenen und disziplinierten Volke aus, das von ihr mitgenommen wird.“
Wer Angela Merkel nicht widerspricht, hat die Diktatur bereits verinnerlicht. Die Mehrheit lässt sich derzeit ihre Grundrechte bereitwillig abnehmen. Und sie hat dafür eine Ausrede, die aus der feinsten Propagandaküche zu stammen scheint: der befohlene Hausarrest diene dem Schutz aller Menschen vor einer Ansteckungsgefahr durch ein vermeintlich tödliches Virus.
Der Verlust der Freiheit
Auch der Bundespräsident Fran-Walter Steinmeier steht an der Seite der Patriarchin, wie in seiner Fernsehansprache zu Ostern am 11.04.2020 jedem klar wurde. Steinmeier sagt:
“Es tut weh, auf den Besuch bei den Eltern zu verzichten. Großeltern zerreißt es das Herz, nicht wenigstens an Ostern die Enkel umarmen zu können. Und viel mehr noch ist anders in diesem Jahr. Kein buntes Gewimmel in Parks und Straßencafés. Für viele von Ihnen nicht die lang ersehnte Urlaubsreise. Für Gastwirte und Hoteliers kein sonniger Start in die Saison. Und für die Gläubigen kein gemeinsames Gebet. Und für uns alle die bohrende Ungewissheit: Wie wird es weitergehen?”
Ein Zurück zu alten Gewohnheiten werde es nicht geben. Die Welt danach werde eine andere sein, sagte Steinmeier. Die Pandemie sei “eine Prüfung unserer Menschlichkeit. Sie ruft das Schlechteste und das Beste in den Menschen hervor. Zeigen wir einander doch das Beste in uns!”
Die Menschen gaben den Diktatoren freiwillig oder unter Zwang zu allen Zeiten ihr Bestes: Ihre Freiheit.
Faina Faruz
Titelfoto: 8385, pixabay
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