Das neue “taktische Hauptquartier für die Nato” in Rostock wirft Fragen auf. Dehnt es die militärische Infrastruktur der NATO auf das ehemalige Territorium der DDR aus? Dient das Hauptquartier der Kontrolle russischer Schiffe auf der Ostsee? Wird durch dessen Einrichtung eines der grundlegenden völkerrechtlichen Dokumente verletzt?
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat am 21.10.2024 in Rostock ein neues “taktisches Hauptquartier” für die Nato eingeweiht, das “Commander Task Force Baltic (CTF Baltic)” genannt wird. In den Medien entbrannte eine Debatte über die Frage, wer denn nun der Auftraggeber für die Errichtung eines militärischen Stützpunktes in der ehemaligen DDR sei, vielleicht die Nato? Nein! sagen die Medien des politischen Mainstreams und die sogenannten “Faktenchecker”. Sie nehmen die NATO in Schutz. Man könne aus der Einrichtung eines “taktischen Hauptquartiers” nicht schließen, dass die Nato die Region zunehmend militarisieren wolle, sagen sie. Es gehe doch nur um die Sicherheit und den Erhalt des Friedens. Und ein taktisches Hauptquartier sei eben “unverzichtbar für den Schutz Europas in Zeiten wachsender Bedrohungen”.
Geplant ist dem Bundeswehrverband zufolge die permanente Anwesenheit von internationalen Offizieren aus elf der mittlerweile 32 Nato-Staaten: Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Lettland, Litauen, Niederlande, Polen und Schweden. In Friedenszeiten umfasst CTF Baltic 180 Dienstposten, “im Kriegsfall kann der Stab auf bis zu 240 Dienstposten aufwachsen”.
Russland lehnt die Errichtung eines Hauptquartiers mit Besetzung von Offizieren aus Natostaaten auf dem Boden der ehemaligen DDR entschieden ab. Die Stationierung von Militärkräften, die nicht der Bundeswehr angehören, verstößt aus seiner Sicht gegen den 2+4-Vertrag, mit dem Russland 1990 durch seine Unterschrift die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichte.
Ein Hauptquartier “bei der Nato” oder “für die Nato”? Oder vielleicht doch “der Nato”?
Russland bestellte am 22. Oktober den deutschen Botschafter in Moskau ins Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten ein und überreichte ihm den Protest.
Dem deutschen Botschafter wurde mitgeteilt, dass “mit diesem Beschluss der Bundesregierung die schleichende Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und die Militarisierung Deutschlands fortgesetzt wird.” In einer Erklärung der russischen Botschaft ist nachzulesen, dass der “eklatante Verstoß” gegen Geist und Buchstaben des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 (des sog. “Zwei-Plus-Vier-Vertrags”) auf der Hand liege. Unter Artikel 5.3 sei Deutschland dazu verpflichtet, keine ausländischen Streitkräfte auf dem ehemaligen Territorium der DDR zu stationieren bzw. dorthin zu verlegen. In diesem Zusammenhang sei von der Bundesregierung eine unverzügliche und erschöpfende Positionierung gefordert worden.
Bei der Eröffnung betonte Boris Pistorius, dass das Hauptquartier keine NATO-Einrichtung sei und somit auch nicht gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag verstoße. Im neuen Hauptquartier sollen lediglich maritime Operationen und Übungsvorhaben geplant und von der NATO zugeteilte Seestreitkräfte geführt werden.
Der “Faktencheck” des MDR MV bekräftigt die Auffassung des Bundesverteidigungsministers. Es handle sich bei dem neuen Hauptquartier weder um eine Stationierung von Nato-Truppen noch um ein NATO-Kommando oder gar ein NATO-Hauptquartier, heißt es im “Faktencheck”. Es gehe doch nur um einen “Stab der Deutschen Marine, dessen Ergebnisse der NATO angeboten werden”. Dies habe Sebastian Bruns, “Experte für maritime Sicherheit und Strategie an der Universität Kiel”, bestätigt. Zwar seien internationale Offiziere – etwa aus Polen, Schweden und Finnland – dort tätig, aber es würden keine NATO-Streitkräfte in Rostock stationiert werden.
Wer will ernsthaft bestreiten, dass die im Hauptquartier tätigen ausländischen NATO-Offiziere nicht Teil der Streitkräfte der Nato sind, die im “Zwei-Plus-Vier-Vertrag” ausgeschlossen wurden?
Ausdehnung der militärischen Infrastruktur der NATO
Das Auswärtige Amt weist die Vorwürfe Russlands zurück, berichtet der Spiegel am 23. Oktober: “Die Bundeswehr übernimmt für die Nato eine Führungsrolle in der Ostseeregion, samt neuem Hauptquartier für die Marine. Anrainer Russland sieht darin eine Provokation, das Auswärtige Amt weist die Vorwürfe zurück.”
Die Behauptung Moskaus, “der Standort verstoße gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag, der eine Stationierung von NATO-Truppen in Ostdeutschland verbietet”, sei falsch, heißt es im “Faktencheck” des NDR MV. Es bestehe keine Absicht, in Rostock Truppen zu stationieren.
Tatsächlich protestiert Russland nicht gegen die “Stationierung von NATO-Truppen”, worunter der unbedarfte Leser sich vermutlich eine Ansammlung bewaffneter, kriegsbereiter Soldaten vorstellt, sondern gegen die “Ausdehnung der militärischen Infrastruktur der NATO auf das ehemalige Territorium der DDR.”
Selbstverständlich wissen alle Verteidigungsminister, dass sich die technischen Möglichkeiten des Militärs seit 1990 geändert haben.
Zeitenwende und Hybrider Krieg
Boris Pistorius bezeichnet laut NDR MV die Einweihung des neuen Hauptquartiers in Rostock für die NATO als “greifbaren Ausdruck der Zeitenwende”. Der Sender berichtet ferner: “Der Bundesverteidigungsminister hat betont, wie wichtig es sei, auf die russische Aggression zu reagieren, die sich auch in hybriden Angriffen und Cyber-Attacken manifestiere. Solche Angriffe zielen darauf ab, die europäische Sicherheit zu destabilisieren und Vertrauen zu untergraben. Wir müssen sicherstellen, dass Putin damit nicht durchkommt.”
Womit sollte Putin durchkommen wollen? Einen Beleg für angebliche imperialistische Absichten des russischen Präsidenten gegenüber Europa gibt es nicht. Putin ist ein Europäer, der an der Niederschlagung faschistischer Bestrebungen, vielleicht an der (Wieder-)Herstellung eines größeren Staatenbundes, aber nicht an der Zerstörung oder Destabilisierung Europas Interesse zeigt. Putin durfte als erster ausländische Staatsmann 2001 eine Rede vor dem deutschen Bundestag halten. Es ist nicht bekannt, was sich an seiner damaligen Grundhaltung gegenüber Europa bis heute geändert haben sollte.
Vielmehr deuten nebulöse Anspielungen darauf hin, dass der Verteidigungsminister den Teufel an die Wand malt, das heißt, dass er und seine Unterstüzer das Schlimmste befürchten und es damit heraufbeschwören.
Es geht den Worten des Verteidigungsministers folgend im neuen Hauptquartier um die Planung maritimer Operationen und Übungsvorhaben und um die Führung der von der NATO zugeteilten Seestreitkräfte. Es geht ihm aber auch um die Stärkung des Militärs in Bezug auf eine hybride Kriegsführung.
Der hybride Krieg dient der Verteidigung ebenso wie dem Angriff. Er verlangt keinen großen Einsatz von Truppen und Panzern, sondern kann, überspitzt formuliert, sogar vom Homeoffice aus betrieben werden.
Das Bundesverteidigungsministerium bezeichnet die neue Art der Kriegsführung als “hybride Taktik” oder “hybride Kriegsführung”, als “eine Kombination aus klassischen Militäreinsätzen, wirtschaftlichem Druck, Computerangriffen bis hin zu Propaganda in den Medien und sozialen Netzwerken.”
Ziel der Angreifer, der nicht zwangsläufig immer nur der “Feind” sein muss, sei es, nicht nur Schaden anzurichten, sondern insbesondere Gesellschaften zu destabilisieren und die öffentliche Meinung zu beeinflussen.
Im Weißbuch hatte die Bundeswehr 2016 eine “zunehmende hybride Bedrohungslage” und “eine zentrale sicherheitspolitische Herausforderung” festgestellt, die ausdrücklich Russland unterstellt wurde. Bis zur Veröffentlichung des Weißbuches galt Russland als Partner Deutschlands. Die Bezeichnung “Partner” wurde im Weißbuch gestrichen und durch “Rivale” ersetzt. Nur mit Mühe gelang es einigen Politikern, die Bezeichnung Russlands als “Feind” zu verhindern.
Die Einschätzung der vermeintlichen Bedrohungslage durch Russland hat mit dem militärischen Eingreifen Russlands in der Ukraine 2022 wenig zu tun.
Das Bundesministerium für Verteidigung greift heute in seiner Definition “Was sind hybride Bedrohungen?” auf das Weißbuch 2016 zurück. Das Weißbuch wurde unter Leitung der damaligen Bundesverteidigungsministerin und heutigen Vorsitzenden der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, angefertigt. Sie wurde einige Zeit als mögliche Nachfolgerin des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg gehandelt.
Vom Wert einer Präambel
Der 2+4-Vertrag hat bis zum heutigen Tag Bestand. In der Präambel des Vertrages haben Deutschland, Frankreich, die Sowjetunion (Russland), Großbritannien und die USA, den gemeinsamen Willen festgelegt, den Frieden zwischen den Ländern zu wahren. Selbst dann, wenn einzelne Passagen eines Vertrages von der Zeit überholt werden, bleibt der Wille, den Frieden zu erhalten, davon unbeschadet.
Dies gilt auch für das Grundgesetz. Die Präambel des Grundgesetzes hat eine grundlegende Bedeutung. Sie lautet: “Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.” Der Bundestag erklärt: “Als eine Art Wegweiser für das Grundgesetz hat Carlo Schmid (SPD) die Präambel bei den Beratungen über das Grundgesetz beschrieben. In ihr verdichten sich geschichtliche Erfahrungen, Grundüberzeugungen sowie Wünsche und Hoffnungen der Verfassungsgeber. Gleich zum Auftakt wird so der “Geist” der Verfassung spürbar.”
Der Geist der Verfassung wird gegenwärtig Schritt für Schritt vom Un- und Kriegsgeist, auch dem von Sozialdemokraten, aus der Verfassung vertrieben.
Es dürfte allen Demokraten, die sich auf das Grundgesetz und Friedensverträge berufen, klar sein, dass Veränderungen der technischen Mittel der Kriegsführung diesen “Wegweiser” nicht umwerfen dürfen, ohne dadurch einem neuen Weltkrieg den Weg zu bereiten.
Tragische Parallelen zur Remilitarisierung des Ruhrgebiets durch Deutschland im Jahr 1936
Aus der Sicht Russlands drängen sich tragische Parallelen zur Remilitarisierung des Ruhrgebiets durch Deutschland im Jahr 1936 auf, “was unter Verletzung des Vertrags von Versailles von 1919 geschah”. Die historische Amnesie hatte Politiker in den europäischen Hauptstädten und in Washington infiziert, die sich vom blinden Hass auf die UdSSR leiten zu lassen. Der Hass habe zum Einverständnis mit den Handlungen der Führung des Dritten Reiches geführt, warnt Russland. Die Katastrophe, die daraus für die Völker Europas und für Deutschland folgte, sei vergessen worden.
Aus der Sicht Russlands haben in der aktuellen historischen Phase die einstigen westlichen Alliierten die Ausdehnung der militärischen Infrastruktur der NATO auf das ehemalige Territorium der DDR beschlossen und es Berlin ermöglicht, “eines der grundlegenden völkerrechtlichen Dokumente” zu verletzen. Sie seien dabei “zu unmittelbaren Komplizen” geworden.
Die Warnungen Russlands werden nicht verstanden: “Die Regierungen in Washington, Brüssel und Berlin müssen sich darüber im Klaren sein, dass die Ausdehnung der militärischen Infrastruktur der NATO auf das ehemalige Territorium der DDR die negativsten Konsequenzen haben wird und nicht ohne angemessene Reaktion der russischen Seite bleibt.”
Die Konsequenzen, die nach dem Scheitern des Minsker Abkommens aus der Vertragsverletzung entstehen könnten, wären für Deutschland gavierend: Die Wiedervereinigung Deutschlands wäre null und nichtig.
Der sogenannte Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde am 12. September 1990 in Moskau unterschrieben und trägt den Titel „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland.“ Vertragsparteien waren das vereinte Deutschland, die Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien und die USA. Der Vertrag trat am 15. März 1991 in Kraft.
Sebastian Erler
Text des 2+4-Vertrags nach der im Politischen Archiv verwahrten Urschrift:
https://archiv.diplo.de/blob/1376246/120c096d4e4bc824f6d91e6d7c85d23a/2plus4-vertragstext-data.pdf
https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/zwei-plus-vier-vertrag
Die Screenshots stammen vom 28.10.2024, 6:00 Uhr, Google “Nato Rostock”