Wodurch heben sich in diesen Tagen lupenreine deutsche Demokraten von Diktatoren ab? – Sie fordern deren Bestrafung. Aufgebrachte Politiker und Medien zeigen derzeit mit ihren Fingern nach Russland und beschuldigen den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, die Opposition in seinem Land zu unterdrücken, ja sogar die Ermordung seiner Kritiker zu veranlassen. Beweise gibt es nicht. Über die Plausibilität wird nicht nachgedacht. Kritik an der Aushöhlung der Demokratie im eigenen Land gilt dagegen als ein Hirngespinst. Die Demontage der Demokratie in Deutschland findet jedoch statt. Und sie ist verifizierbar. Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser initiierten einen Solidaritätsappell, um einen Schulterschluss aller Demokraten für die freie Meinungsäußerung zu bewirken: Appell für Freie Debattenräume.
Lupenrein demokratisch handeln
Nein, so gehe es wirklich nicht weiter, sagt Casdorff. Wladimir Putin sei auf dem Weg zum Unterdrücker. Dafür brauche man keine Lupe.”Gerade bei solchen menschenverachtenden Entwicklungen müssen die Europäer, nicht zuletzt die Deutschen, lupenrein demokratisch handeln.”
Rund 75 Prozent der russischen Bevölkerung lebt in Zentralrussland, dem europäischen Teil des Landes. Aber zurzeit sind feindselige Äußerungen gegen Staaten der EU politisch nicht gewollt, aus diesem Grund zählen reaktionäre Journalisten in der Regel Russland nicht zu Europa. Die Einstellung gegen Russland hat eine Vorgeschichte. 1939 galt die Sowjetunion als der „Hauptfeind“ Deutschlands. Heute ist es das nicht sowjetische Russland, gegen das die USA und die EU gemeinsam militärische Pläne aushecken, begleitet und vorbereitet von einer Politik der Nadelstiche gegen Russland. Der politische Wind hat sich auf Verlangen der USA in Deutschland gedreht: Russland galt bis zur Veröffentlichung des Weißbuches 2016 als Partner Deutschlands. 2016 wurde die Bezeichnung Partner gestrichen und offiziell durch „Rivale“ ersetzt.
Dass der Splitter im Auges des Anderen gesucht, der Balken im eigenen Auge nicht erkannt wird, zeigt die Aufzählung lupenreiner Verstöße gegen demokratische Werte, die im Solidaritätsappell Appell für Freie Debattenräume genannt werden. Genannt werden
- Von Veranstaltern ausgeladene Kabarettisten,
- Zensierte Karikaturisten,
- Pauschal verbotene Demonstrationen,
- Schriftsteller, deren Bücher aus dem Sortiment genommen werden oder von Bestsellerlisten getilgt werden,
- Verfolgte und eingesperrte Whistleblower & Enthüller,
- Opernaufführungen, die abgesagt werden,
- Seminare oder Vorlesungen, die nicht stattfinden können, weil sie gestört werden,
- Verlage, die gedrängt werden, bestimmte Bücher nicht herauszubringen,
“Absagen, löschen, zensieren: seit einigen Jahren macht sich ein Ungeist breit, der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt und die Grundlage des freien Austauschs von Ideen und Argumenten untergräbt. Der Meinungskorridor wird verengt, Informationsinseln versinken, Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens werden stummgeschaltet und stigmatisiert”, sagen Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser.
Der Medienwissenschaftler Prof.em. Norbert Bolz, der Philosoph und YouTube-Publizist Gunnar Kaiser und der Schriftsteller Bernhard Lassahn diskutieren mit Burkhard Müller-Ullrich über den von Gunnar Kaiser mit-lancierten Appell gegen die grassierende Kultur des Mundtotmachens und Existenzvernichtens. Bringt es etwas, zum ideologischen Gegner die Hand auszustrecken? Gehört Cancel Culture nicht zum unveränderlichen Erbgut der Linken? (Podcast hören.)
Die Unterzeichner solidarisieren sich “mit den Ausgeladenen, Zensierten, Stummgeschalteten oder unsichtbar Gewordenen.” Sie teilen nicht unbedingt ihre Meinung, wie sie sagen. “Vielleicht lehnen wir diese sogar strikt ab. Sondern weil wir sie hören wollen, um uns selbst eine Meinung bilden zu können.”
Der Solidaritätsappell richtet sich “an sämtliche Veranstalter, Multiplikatoren oder Plattformbetreiber, dem Druck auf sie standzuhalten und nicht die Lautstarken darüber entscheiden zu lassen, ob eine Veranstaltung stattfindet oder nicht.”
Appell für Freie Debattenräume
Die Debattenräume beziehen sich nicht nur symbolisch auf Freiräume, in denen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, Meinungen und Wissen ausgetauscht werden können, sondern auch auf reale Räumlichkeiten. Die Sanktionen erstrecken sich nicht nur auf die Redner, sondern auch auf die Vermieter von Seminar- und Veranstaltungsräumen. Darüber berichtete zum Beispiel EIKE 2019 im Zusammenhang mit der Klimakonferenz. Das für die Konferenz vorgesehene Tagungshotel in München kündigte aufgrund politischen Drucks den Vertrag mit EIKE. Einem Mob gefielen die Themen der Veranstaltung nicht: Experten aus verschiedenen Ländern wollten sich über den aktuellen Stand der Forschungen, die naturgesetzlichen Grenzen der „Energiewende“ und die Schwächen und Fehler der gegenwärtigen Klimawissenschaften austauschen.
Die Debattenräume sind in einer Demokratie unentbehrlich. “Ohne freie Debatten und freie Rede gibt es keine funktionierende Demokratie”, heißt es in dem Appell für Freie Debattenräume.
In ihrem Aufruf zum Solidaritätsappell schreiben Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser, die diesen Appell initiierten:
“Wir erleben gerade einen Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit. Nicht die besseren Argumente zählen, sondern zunehmend zur Schau gestellte Haltung und richtige Moral. Stammes- und Herdendenken machen sich breit. Das Denken in Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten bestimmt die Debatten – und verhindert dadurch nicht selten eine echte Diskussion, Austausch und Erkenntnisgewinn. Lautstarke Minderheiten von Aktivisten legen immer häufiger fest, was wie gesagt oder überhaupt zum Thema werden darf. Was an Universitäten und Bildungsanstalten begann, ist in Kunst und Kultur, bei Kabarettisten und Leitartiklern angekommen.
Inzwischen sind die demokratischen Prozesse selbst bedroht. Der freie Zugang zum öffentlichen Debattenraum ist die Wesensgrundlage eines jeden künstlerischen, wissenschaftlichen oder journalistischen Schaffens sowie die Basis für die Urteilskraft eines jeden Bürgers. Ohne freie Debatten und freie Rede gibt es keine funktionierende Demokratie. Wie wollen wir in Zukunft Sachfragen von öffentlichem Interesse behandeln? Betreut und eingehegt – oder frei?
Die gezielte Verunglimpfung von Intellektuellen, Künstlern, Autoren und jedem, der von der aktuell herrschenden öffentlichen Meinung abweicht, ist eine inakzeptable Anmaßung. Freie Rede und Informationsgewinnung sowie freie wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung sind Rechte und nicht Privilegien, die von dominierenden Gesinnungsgemeinschaften an Gesinnungsgleiche verliehen und missliebigen Personen entzogen werden können. Es ist dabei unerheblich, auf welcher politischen Seite die Gruppierung steht, ob sie religiös, weltanschaulich oder moralisch motiviert ist – ein Angriff auf die Demokratie bleibt ein Angriff auf die Demokratie.
Wir fordern sämtliche Veranstalter, Multiplikatoren oder Plattformbetreiber auf, dem Druck auf sie standzuhalten und nicht die Lautstarken darüber entscheiden zu lassen, ob eine Veranstaltung stattfindet oder nicht.
Wir solidarisieren uns mit den Ausgeladenen, Zensierten, Stummgeschalteten oder unsichtbar Gewordenen. Nicht, weil wir ihre Meinung teilen. Vielleicht lehnen wir diese sogar strikt ab. Sondern weil wir sie hören wollen, um uns selbst eine Meinung bilden zu können.
Wir möchten das unselige Phänomen der Kontaktschuld beenden. Ohne sie wäre die Absageunkultur nicht möglich. Kontakt ist nicht geistige Komplizenschaft. Die Nutzung einer gemeinsamen Plattform oder Bühne ändert nichts daran, dass jeder für sich spricht und auch nur dafür verantwortlich ist, was er oder sie sagt.
Auch die Unterzeichner dieses Appells sprechen jeweils nur für sich selbst. Uns eint vielleicht nichts, außer die Sehnsucht nach einer aufregenden, für beide Seiten erhellenden Konversation und nach einem vielfältigen Kulturangebot, was auch immer jede und jeder darunter verstehen mag.
Milosz Matuschek & Gunnar Kaiser
Erstunterzeichner
Erstunterzeichner des Appells “Für Freie Debattenräume” sind unter anderem: (Links zu Büchern der Autoren bei Storchmann Medien)
Hamed Abdel-Samad, Politikwissenschaftler und Publizist
Andreas Altmann Reporter, Reiseschriftsteller
Götz Aly Historiker und Publizist
Prinz Asfa-Wossen Asserate Publizist und Unternehmensberater
Jörg Baberowski Historiker und Gewaltforscher
Marianne Bäumler Historiker und Gewaltforscher
Michèle Binswanger Journalistin, Tagesanzeiger
Norbert Bolz em. Professor für Medienwissenschaft, TU Berlin
Raphael M. Bonelli Psychiater und Autor
Ralf Bönt Schriftsteller
Vince Ebert Wissenschaftskabarettist
Hartmut Esser Professor für Soziologie, Universität Mannheim
Ute Florey Sängerin, Professorin UdK Berlin
Carl Friedrich Gethmann Professur für Philosophie, Universität Siegen, Mitglied des Ethikrates
Giuseppe Gracia Autor, Kolumnist/Blick
Alexander Grau Philosoph, Kolumnist/Cicero
Luís Greco Professor für Strafrecht, HU Berlin
Bettina Hagen Malerin
Peter Hahne Fernsehmoderator und Autor
Green Rabbit Youtuber
Lars Hartmann Kulturjournalist und Blogger
Rainer Hegselmann Professor, Frankfurt School of Finance & Management
Michael Hofreiter Professor für Zoologie/Universität Potsdam
Arne Hoffmann Wissenschaftsjournalist und Männerrechtler
Helmut Holzhey em. Professor für Philosophie, Universität Zürich
Alexander Horn Publizist und Geschäftsführer Politikmagazin Novo
Christian Illies Professor f. Philosophie, Universität Bamberg
Erwin Jurtschitsch Journalist, Unternehmer, Mitgründer der taz/die tageszeitung
Necla Kelek Soziologin und Publizistin
Alexander Kissler Journalist und Autor
Sandra Kostner Migrationsforscherin, PH Schwäbisch Gmünd
Markus Krall Wirtschaftspublizist
Josef Kraus Publizist
Walter Krämer Ökonom, Professor, Autor
Frank Lübberding Journalist
Monika Maron Schriftstellerin
Harald Martenstein Autor und Journalist
Verena Mayer Professorin f. Philosophie, LMU München
Reinhard Merkel Strafrechtsprofessor, langjähriges Mitglied im Ethikrat
Martin Meyen Professor für Kommunikationswissenschaft, LMU München
Axel Meyer Professor für Zoologie/Evolutionsbiologie, Universität Konstanz
Albrecht Müller Herausgeber Nachdenkseiten.de
Rebecca Niazi-Shahabi Sachbuchautorin
Gunther Nickel Professor für Literatur, Universität Mainz
Dieter Nuhr Künstler
Haralampi G. Oroschakoff Künstler
Boris Palmer Oberbürgermeister von Tübingen
Rainer Paris Soziologe
Robert Pfaller Philosoph und Kulturtheoretiker, Universität Linz
Philip Plickert Journalist, FAZ
Sascha Reh Schriftsteller
Patrick Reiser Lehrer, Coach, Youtuber
Rüdiger Safranski Schriftsteller
Michael Schmidt-Salomon Philosoph, Publizist/Giordano Bruno Stiftung
Dieter Schönecker Professor für Philosophie, Universität Siegen
Susanne Schröter Professorin für Ethnologie, Universität Frankfurt
Gerhard Schwarz Publizist, Progress Foundation
Wolfgang Sofsky Soziologe und Essayist
Thomas Sevcik Stratege
Cora Stephan Schriftstellerin
Ulrike Stockmann Journalistin/Achse des Guten, Jüdische Rundschau
Peer Teuwsen Ressortleiter Kultur, NZZ am Sonntag
Andreas Thiel Kabarettist
Maritta Tkalec Journalistin, Berliner Zeitung
Ilija Trojanow Schriftsteller
Raymond Unger Künstler und Autor
Michael von Liechtenstein Unternehmer
Daniel von Wachter Professor für Philosophie, Liechtenstein
Günter Wallraff Journalist und Schriftsteller
Tonio Walter Strafrechtsprofessor, Universität Regensburg und Schriftsteller
Alexander Wendt Autor, Journalist (Publico, Tichy Einblick)
Tamara Wernli Youtuberin, Kolumnistin/Weltwoche
Stephan Wirz Titularprofessor für Ethik und Publizist
Michael Zöller em. Professor für Soziologie, Universität Bayreuth
Christian Zulliger Hayek Club Zürich
Tobias Gärtner
Siehe auch: https://www.achgut.com/artikel/wider_die_herrschaft_der_angst_der_appell_fuer_freie_debattenraeume
Titelfoto: Christian Scholz, Plone Conference 2009 Group Photo, piqs.de CC-Lizenz (BY 2.0)
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