Es gehört zu den Besonderheiten der geistigen Entwicklung in Deutschland, mit pompösen Worten schwache Inhalte zu kaschieren oder ihnen eine neue Bedeutung zu geben, so dass die bisherigen Inhalte ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren. Besonders erlebnisnah wurde dies von den Grünen in allen Parteien mit der Bezeichnung “Windpark” durchgesetzt. Die Bezeichnung wurde von sämtlichen Medien, inklusive Lehrplänen unkritisch übernommen. Sie verbindet eine Naturerscheinung, den Wind, mit von Menschen angelegten Landschaftsgartenanlagen, meint aber in Wirklichkeit Windkraftindustrieanlagen, für deren Bau Landschaften zerstört werden.
Ähnlich wie “Windpark” funktionieren die Bezeichnungen “Willkommenskultur” und “Erinnerungskultur”. Sie haben erst in den 90er Jahren Einzug in die Wissenschaftssprache gehalten und haben dort, im Unterschied zu “Windpark”, als methodologische Begriffe für den wissenschaftlichen Diskurs einen Sinn. Aber sie haben einen Nachteil: Sobald sie das wissenschaftliche “Labor” verlassen, verselbständigen sie sich und werden virulent. Die Kunstworte erhalten eine geschichts- und damit bewusstseinsbildende Funktion und werden von verantwortungslosen Politikern gezielt für ihre Politik eingesetzt. Das heißt, sie dienen außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses nicht nur analytischen Zwecken, sondern beinhalten, was gedacht werden soll.
Dies wird am Beispiel der “Erinnerungskultur” deutlich, die in Hamburg Beihilfe für die SPD, FDP und die Bündnis90/Die Grünen zur Etablierung Hindenburgs als Ehrenbürger der Stadt leistet.
Noch im Mai 2013 stand für die Hamburger Grünen fest: Hindenburg war der Totengräber der Weimarer Republik. Die Ehrenbürgerwürde Hamburgs sei ihm abzuerkennen. Diese Forderung ist dem folgenden Dokument der Grünen vom 16.05.2013 auf der Homepage ihrer Fraktion belegt.
▬ Mai 2013: Grüne, SPD und Linke für Aberkennung der Ehrenbürgerwürde Hindenburgs
Debatte um Paul von Hindenburg. Ehrenbürgerliste kommentieren – Hindenburg den Titel aberkennen.
16.05.2013
“Die Grünen wollen dem ehemaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1847-1934) die Hamburger Ehrenbürgerwürde aberkennen. Zusätzlich unterstützen die Grünen einen interfraktionellen Antrag, der eine historische Kontextualisierung der Ehrenbürgerliste fordert. Diese Einordnung der Persönlichkeiten in den historischen Zusammenhang geht den Grünen allerdings im Fall Hindenburg nicht weit genug.
Katharina Fegebank, Sprecherin für Internationales der Grünen Bürgerschaftsfraktion, sagt dazu:
„Die historische Neubewertung Hindenburgs zeigt, dass er aus politischen Kalkül die Weimarer Republik gefährdet und Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt hat. Er war der Totengräber der Weimarer Republik, der Begründer der Dolchstoßlegende und der Steigbügelhalter für Hitler. Eine Würdigung dieses Mannes als Hamburger Ehrenbürger ist mit unseren demokratischen Werten nicht länger zu vereinbaren. Andere Städte haben dies längst erkannt und korrigiert, indem sie den Namen aus Ehrenbürgerlisten und Straßennamen gestrichen haben. Jeder, der sich heute für die Beibehaltung der Ehrenbürgerschaft Hindenburgs ausspricht, tut dies mit Wissen um sein folgenreiches politisches Wirken.
Zusätzlich fordern wir, dass ein Konzept zum Umgang mit weiteren kritischen Ehrenbürgerschaften erarbeitet wird. Wir begrüßen es, dass die von uns angestoßene Debatte um Hindenburg nun gemeinsam mit SPD, FDP und LINKEN in einem Antrag aufgegriffen wird. Die historische Einordnung der Ehrenbürgerschaften Hamburgs ist ein wichtiger Schritt, um sich weiter intensiv mit der Vergangenheit Hamburgs zu befassen.“
▬ Mai 2015: Grüne und Linke für Aberkennung, SPD dagegen
Im Mai 2015 wollen Grüne und Linke dem umstrittenen Reichspräsidenten die Ehrenbürgerwürde aberkennen, aber die SPD ist dagegen. Die SPD-Abgeordnete und Historikerin Loretana de Libero liefert die Erklärung der SPD:
“Wer heute den Namen Hindenburgs aus der Ehrenbürgerliste tilgen will, trägt dazu bei, das Ausmaß der NS-Verbrechen zu relativieren.”
“Nicht tilgen, dafür stärker historisch einordnen”, lautet die Position der SPD. Hitler und Göring sollten die Einzigen bleiben, denen die Ehrenbürgerwürde aberkannt wurde, um die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen zu betonen.
Die Grünen reagierten im Mai 2015 noch empört: “Hindenburg war der Totengräber der Weimarer Republik und der Steigbügelhalter Hitlers”, entgegnete die Grünen-Abgeordnete Katharina Fegebank der SPD. “Erinnern und ehren sind zwei verschiedene Dinge. Hindenburg verdient es nicht, die Ehrenbürgerwürde zu tragen.” Ein Antrag der Grünen, Hindenburg als “Steigbügelhalter Hitlers” die Ehrenbürgerwürde abzuerkennen, wäre nur von der Linken unterstützt worden. Zwei Anträge wurden zur weiteren Beratung an den Kulturausschuss überwiesen.
Der ehemalige deutsche Reichspräsident Paul von Hindenburg bleibt vorerst Hamburger Ehrenbürger.
▬ Oktober 2015: Grüne, SPD und FDP für Erhalt der Ehrenbürgerwürde Hindenburgs
“Hamburgs aktuell umstrittenster Ehrenbürger, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, darf diese Würde behalten. Darauf haben sich jetzt Grüne, SPD und FDP verständigt”, berichtet die Welt am 14.10.2015. Die Zustimmung der Grünen sorgte innerhalb der Partei überregional für Entsetzen, aber das Tischtuch zwischen den Konformisten und den Kritikern in der grünen Partei ist schon längst zerschnitten.
Wie konnte es zu dem Gesinnungswandel in Hamburg kommen?
SPD und FDP folgen einem Gutachten der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, die Grünen haben sich deren Auffassung angeschlossen und vertreten den Gesinnungswechsel als “seriöse Erinnerungskultur“. Die Forschungsstelle ist der Meinung, dass der Erhalt der Ehrenbürgerwürde Hindenburgs der Einordnung seines Wirkens diene und daher zukunftsweisend sei, “weil es eine Auseinandersetzung mit der Kritik an ihm ermögliche.” Ein nicht klar definiertes Aberkennungsverfahren sei jeweils selbst Ausdruck des Zeitgeistes und riskiere, “ein aktuelles Bedürfnis nach politisch-moralischer Richtigstellung zu bedienen”. Das aber könne nicht das Ziel einer “seriösen Erinnerungskultur” sein.
“Kritische Einordnung”, “transparent”, “nachvollziehbar”, “konstruktive Aufarbeitung der Vergangenheit”, “Hamburger Erinnerungskultur”, “angemessen aber nicht geschichtsvergessen”, “unsere Hamburger Ehrenbürger” sind denn auch die Schlagworte, mit denen die Fraktionssprecher ihre positive Einstellung zur Ehrenbürgerschaft Hindenburgs begründen. Vom “Totengräber der Weimarer Republik” ist jetzt keine Rede mehr, Hindenburg ist in der Mitte der bürgerlichen Nachkriegsgesellschaft Hamburgs angekommen. Für eine angemessene und nicht geschichtsvergessene Auseinandersetzung mit seiner Person, Funktion und Ehrenbürgerschaft hätten sich die Parteien auch bei Aberkennung der Ehrenbürgerschaft auseinandersetzen können. Aber sie entspricht offenbar nicht mehr dem weiter nach rechts driftenden “Zeitgeist”.
Die Kulturbehörde soll ein Konzept entwickeln, “wie die historische Bedeutung aller Hamburger Ehrenbürger öffentlich gemacht werden kann.” Bis zum kommenden Frühjahr 2016 soll das Konzept der Kulturbehörde vorgelegt werden.
Notiz
Die weiterhin gültige Anerkennung der Ehrenbürgerschaft Hindenburgs in Hamburg wirft ein Licht auf Strömungen, die hinter den Parteien wirken. Diese Frage ist wichtig, weil die spektakulären Auftritte von PEGIDA-Anhängern und die offizielle Empörung davon ablenken, dass auch vor 1933 faschistisches Gedankengut auf der Straße ausgelebt wurde, aber nicht auf der Straße entstand.
In diesem Zusammenhang sollte dem Juristen Fritz Bauer besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Aber zurück nach Hamburg. Der Hamburger Richterverein veröffentlicht auf seiner Homepage einen Aufsatz des emeritierten Professors für Öffentliches Recht, Ingo von Münch (FDP). Als Professor für Verfassungs- und Völkerrecht hat er sich unter anderem als Grundgesetzkommentator einen Namen gemacht. Sein Aufsatz “Hindenburg wird entsorgt” ist zuerst in der Preußische Allgemeine Zeitung (PAZ) erschienen, eine “überregionale deutsche Wochenzeitung für Politik, Kultur und Wirtschaft”, deren Grundsatz “preußisch korrekt statt politisch korrekt” lautet, im Sinne einer “preußisch-wertkonservativen Berichterstattung.” Ingo von Münch lehrte 1965 bis 1973 an der Ruhr-Universität Bochum, von 1987 – 1991 war von Münch zweiter Bürgermeister und Wissenschafts- und Kultursenator Hamburgs.
Zu dieser Zeit, 1988-1990, war Detlev Peukert (SPD, vorher DKP) Leiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Detlev Peukert studierte 1969 bis 1975 Geschichte und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum, wurde 1979 bei Hans Mommsen (SPD) mit einer Arbeit über „Die KPD im Widerstand“ promoviert und 1984 bei Lutz Niethammer mit einer Arbeit über die Geschichte der deutschen Jugendfürsorge habilitiert und sich internationale Anerkennung verschafft. Er starb 1990. (Wikipedia)
Peukert vertritt in seinen Veröffentlichungen die Auffassung, dass mit Hindenburgs Amtsübernahme ein „stiller Verfassungswandel“ eingesetzt habe. Durch Militär und Großlandwirtschaft, aus dessen Milieu Hindenburg entstammte, habe es eine geplante Verschiebung der Gewichte nach rechts zur Stärkung einer autoritären Regierungsweise und zur Schaffung von Voraussetzungen für eine entsprechende Verfassungsänderung gegeben. Diese Bestrebungen seien bereits 1925 und 1926 zu belegen.
Mit der “Erinnerungskultur”, die seit den 90er Jahren gepflegt wird, ging offenbar auch der gesellschaftskritische Ansatz Peukerts verloren. Der ehemalige zweite Bürgermeister, Wissenschafts- und Kultursenator Hamburgs, Ingo von Münch, beklagt heute, dass Hindenburg “entsorgt” werde und lehnt die Aberkennung der Ehrenbürgerschaft Hindenburgs ab. Aus seiner Sicht ist der “gute alte Hindenburg”, wie er vor seiner Wiederwahl 1932 gefeiert worden sei, ein Opfer heutiger “Bilderstürmer“. Der Jurist befürchtet, “dass diese aus politischer Korrektheit und historischer Unwissenheit genährte Bilderstürmerei nicht aufhören wird bis auch das letzte Straßenschild gereinigt ist, immer mit dem Argument, Hindenburg habe Hitler an die Macht gebracht.”
“Was ist die Wahrheit?” fragt Ingo von Münch. Er sieht Hindenburg als Opfer. Nicht das Militär und die Großlandwirtschaft haben Hindenburg benutzt, um ihre Interessen durchzusetzen, sondern “eine breite Volksinitiative” habe sich unter dem Motto „Das Volk will Hindenburg“ für seine Wiederwahl zum Reichspräsidenten ausgesprochen: “Unter den Initiatoren befanden sich Gustav Noske, Gerhart Hauptmann, Max Liebermann und Max Slevogt, später auch Konrad Adenauer und Ernst Robert Curtius. Der zunächst noch zögernde, im 84. Lebensjahr stehende Hindenburg wurde schließlich durch die über zwei Millionen Unterschriften, die sich in den von der „Frankfurter Zeitung“ aufgelegten Eintragungslisten für seine Kandidatur ausgesprochen hatten, bewogen, seine erneute Kandidatur zu erklären. Hindenburg trat gegen Hitler und gegen Ernst Thälmann an; der zweite Wahlgang wurde zu einem Triumph Hindenburgs (19,3 Millionen Stimmen) und zu einer Niederlage Hitlers (13,4 Millionen Stimmen) – eine Niederlage, die Hitler dem Wahlsieger nicht verzeihen würde.”
Hindenburg ein Opfer Hitlers persönlicher Rache? Die Dokumente zeigen etwas anderes. Nachdem Hitler am 30. Januar 1933 durch Hindenburg die Berufung zum Reichskanzler und damit die Macht übertragen worden war, löste er gemeinsam mit Hitler und Frick am 1. Februar 1933 den Reichstag auf. Der Auflösung folgten nach dem inszenierten Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 unter anderem die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes“ und die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“. Damit waren die Grundrechte außer Kraft gesetzt. Es folgten direkt danach Massenverhaftungen von Anhängern der KPD und der SPD. Durch eine symbolische Verneigung Hitlers vor dem greisen Reichspräsidenten wurde “Hindenburgs hohes Ansehen für das neue Regime instrumentalisiert und vereinnahmt.” (Wikipedia)
Ingo von Münch rechnet Hindenburg hoch an, dass dieser “im August 1914 Ostpreußen vor der Besetzung durch die russischen Armeen bewahrt hat, womit den Menschen in Ostpreußen vermutlich viel Leid erspart geblieben ist”. Aus der Rettung Ostpreußens könne Hindenburg selbst von politisch Linksstehenden kein Vorwurf gemacht werden, sagt von Münch, aber auch aus seinem späteren Verhalten nicht, denn die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler sei legal gewesen. Die weitere Entwicklung vergleicht von Münch mit einer Naturgewalt, die sich frei von Hindenburgs Schuld Bahn gebrochen haben muss. Ingo von Münch: “Die braune Flut stieg. Der Reichstag war gelähmt.”
Ingo von Münch entschuldigt Hindenburg, empört sich aber am Ende seines Artikels über Ilja Ehrenburg. Hindenburg sei zu Lebzeiten schon als Toter behandelt worden, beklagt Ingo von Münch. Heute sieht er ihn noch einmal als Opfer von SPD, Grünen, Linken und dem Südschleswigschen Wählerverein:
“Nun – im Jahre 2014 – wird Hindenburgs Name auf Straßenschildern getilgt. Wir leben in einem Land, in dem ein Hindenburgufer in Kiel umbenannt wird, eine Ilja-EhrenburgStraße in Rostock aber ihren Namen behält.”
Ehrenburg hatte 1931 zweimal Deutschland besucht und danach eine Reihe von Artikeln für die sowjetische Presse verfasst, in der er tiefe Besorgnis über den Aufstieg des Nationalsozialismus ausdrückte. Gemeinsam mit Wassili Grossman hatte er frühzeitig begonnen, Berichte über die deutschen Massaker an Juden zu sammeln, die im Schwarzbuch über den Genozid an den sowjetischen Juden veröffentlicht wurden. Er erhielt dabei Unterstützung amerikanischer jüdischer Organisationen (u. a. unter wesentlicher Beteiligung von Albert Einstein).
Fazit
Die braune Flut steigt, und diejenigen, die die Schleusentore öffnen, Wegbereitern des Faschismus Ehre zollen, ob in kritischer Absicht oder nicht, sind biedere, ehrenwerte Bürger, Juristen, Wissenschaftler in Vereinigungen mit wohlklingendem Namen und demokratisch gewählte Abgeordnete in SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP.
Quellen:
- Bündnis90/Die Grünen: Ehrenbürgerliste kommentieren – Hindenburg den Titel aberkennen
- Die Welt: Hindenburg darf Ehrenbürger Hamburgs bleiben
- Preußische Allgemeine Zeitung / http://www.richterverein.de/mhr/mhr142/mhr142.pdf
- Detlev Peukert: Weimarer Republik, Neuauflage 2009, edition suhrkamp
- Christoph Cornelißen: Erinnerungskulturen
Werbung
Fritz Bauer zwang die Deutschen zum Hinsehen: Inmitten einer Justiz, die in der jungen Bundesrepublik noch immer von braunen Seilschaften geprägt war, setzte er den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess durch. Er kooperierte mit dem israelischen Geheimdienst, um Adolf Eichmann vor Gericht zu bringen. Der Jurist und Journalist Ronen Steinke schreibt die Biografie des Mannes, der in der Nachkriegszeit angefeindet wurde wie kaum ein Zweiter. Er verwendet zahlreiche bislang unbekannter Quellen. »Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht«, das ist die Biografie eines großen Juristen und Humanisten, dessen persönliche Geschichte zum Politikum wurde.