Debatten sind eine Voraussetzung lebendiger Demokratie
“Buchhandlungen sollten Orte für Debatten sein”, sagt Michael Lemling, Geschäftsführer der Buchhandlung Lehmkuhl, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Debatten sind “eine Voraussetzung lebendiger Demokratie und eines gelingenden Zusammenlebens in unserer vielfältigen Gesellschaft. Debattieren heißt: Stellung beziehen, Gründe nennen, Kritik vortragen – gegen- und miteinander. Debattanten müssen sich präzise ausdrücken können und einander zuhören”, heißt es auf der Internetseite “Jugend debattiert”.
Michael Lemling hatte Margarete Stokowski zu einer Lesung eingeladen. Weil aber die Buchhandlung ein Buch von Alexander Gauland und andere Bücher aus dem Antaios Verlag im Regal stehen hat, sagte die Autorin und Kolumnen-Schreiberin beim Spiegel und bei der taz, Margarete Stokowski, eine bereits ausverkaufte Lesung in der Buchhandlung Lehmkuhl ab. Sie hat sich nicht einmal selbst davon überzeugt, sondern sich diese Ungeheuerlichkeit von aufmerksamen Blockwarten zutragen lassen.
Haltung zeigen
Die Buchhandlung Lehmkuhl in München Schwabing, ein “linksliberaler Veranstaltungsort”, wie Michael Lemling ihn nennt, hat aus der Sicht des Buchhändlers Linus Giese, der in einer Kiezbuchhandlung in Berlin arbeitet, eine schlechte Haltung. Der Buchhändler erklärt, was er unter “Haltung zeigen” versteht: “Wir haben uns entschieden, den neuen Sarazzin weder auszulegen noch einzukaufen – wie so viele andere Bücher auch.” Richtig ist, dass auch die größte Buchhandlung nur eine kleine Auswahl aus mehr als einer Million lieferbarer Titel im Bestand haben kann. Sie legt ihre Auswahlkriterien als Händler, das heißt den Einkauf der Bücher auf eigene Rechnung, selbst fest. Eine Auswahl findet statt, aber keine Zensur.
Was aber der Buchhändler Linus Giese in der taz beschreibt, ist keine Auswahl, sondern Gesinnungsschnüffelei und Zensur. Die Gesinnung des Kunden, nicht der Kunde entscheidet darüber, ob er das Buch für ihn bestellt wird. “Für einen unserer Kunden, der an einem Dokumentarfilm über die AfD arbeitet, bestelle ich Bücher, die ich selbst bedenklich finde – die er aber für seine Arbeit braucht. Deshalb müssen die Titel aber noch lange nicht im Buchladen stehen.” Im Laden müssen die Bücher nicht stehen, dass sich der Kunde aber einer Inquisition unterziehen soll, um den gewünschten Titel zu erhalten, ist mit den Spielregeln einer Demokratie unvereinbar.
Eine moderne Anarchistin debattiert nicht
Er freue sich, sagt Giese, “dass Stokowski mit dieser konsequenten Entscheidung deutlich gemacht hat, dass sie die Haltung der Buchhandlung (rechte Bücher anbieten, damit sie sich vielleicht beim Lesen selbst entlarven), nicht mittragen möchte.”
Auf die Frage der Süddeutschen Zeitung, worauf es ihm ankommen, sagt Michael Lemling in einem Gespräch: “Wir beobachten, dass die Debatten, die wir auf den Buchmessen erlebt haben, jetzt in den Buchhandlungen ankommen, sobald man politische Veranstaltungen macht. Kürzlich hat die Berliner Buchhandlung “Montag” den stellvertretenden Politikchef vom Focus, Alexander Wendt, eingeladen, weil er ein Buch über Drogen geschrieben hat. Dann haben sie festgestellt, dass er die “Charta 2017” und die “Erklärung 2018″ unterschrieben hatte, und ihn blitzschnell wieder ausgeladen. Bei uns ist es jetzt andersherum, aber im Grunde ähnlich: Niemand will mehr miteinander sprechen.”
Niemand? Das ist übertrieben. Margarete Stokowski ist ein besonderer Fall. Sie zählt zu einem neuen Typus von Feministinnen, die “Anarchie für die Lösung der Gleichberechtigungsproblematik” halten. So formuliert es jedenfalls Barbara Vorsamer in einer Buchkritik zu Margarete Stokowskis “Untenrum frei”. Nach dieser forschen Forderung werde es dünn, sagt die Journalistin. “Anarchie, die Abwesenheit von Herrschaft, soll eine gerechtere Gesellschaft schaffen – aber wie genau soll das funktionieren? Es bleibt unklar, stattdessen gibt Stokowski der Leserin mit auf den Weg, häufiger mal “Fuck you” zu sagen.”
Womit die Debatte beendet wäre, bevor sie angefangen hat.
● Stellungnahme der Buchhandlung Lehmkuhl zu Margarete Stokowskis Absage ihrer Lesung am 28. November (5. November)
Margarete Stokowski hat ihre bereits ausverkaufte Lesung bei Lehmkuhl am 28.11. abgesagt und erklärt, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt an einem anderen Ort in München lesen wird. Dazu von uns das Folgende:
Frau Stokowski hat abgesagt, nachdem ihr zugetragen wurde, dass sich in unserer Auswahl an Büchern, die sich mit der Neuen Rechten beschäftigen, auch einige rechte Primärtexte aus dem Antaios Verlag befinden. Das macht Lehmkuhl für Sie zu einem Ort, an dem sie nicht auftreten möchte.
Frau Stokowskis Absage wirft wichtige Fragen auf: Wer darf rechte Bücher lesen? Dürfen Buchhändler Bücher aus rechten Verlagen verkaufen? Wenn ja: an wen? Und nicht zuletzt: Wie steht es um die Debattenfähigkeit der streitbaren SPIEGEL-Kolumnistin Margarete Stokowski, die einen linksliberalen Veranstaltungsort wie Lehmkuhl zur No-go-Area erklärt, weil er nicht in ihr „Antifa-ist-Handarbeit“-Konzept passt?
Wer auch immer sich mit Rechtspopulisten in all ihren Spielarten beschäftigen möchte, findet dazu bei Lehmkuhl die größte Auswahl an Titeln in München. Wir haben sie unter der Rubrik „Neue Rechte, altes Denken“ zusammengestellt. Die große Auswahl ist kein Zufall, halten wir doch die Auseinandersetzung mit den Rechten für eine der wesentlichen politischen Herausforderungen der Gegenwart.
Wer sich gegen Rechts engagiert, sollte wissen, was Rechte denken und lesen, wie sie argumentieren. Das kann man sich alles aus der vorhandenen Sekundärliteratur erschließen. Stimmt. So haben wir es hier praktiziert, bis „Finis Germania“ von Rolf Sieferle erst zum Skandal auf der NDR-Sachbuchbestenliste und dann zum SPIEGEL-Bestseller wurde. Es waren die bürgerlichen Feuilletons mit ihren namhaftesten Kritikern, die einen rechten Text zur Debatte stellten, dem eine nennenswerte Nachfrage im Buchhandel folgte. Dürfen nur Journalisten, Historiker und Politologen Sieferle lesen? Es hätte an diesem Punkt nicht von der „Haltung“ des Buchhändlers sondern von seiner Arroganz gezeugt, wenn er seinen interessierten Kunden diesen Text verweigert hätte. Wir haben in der Folge zwei weitere Publikationen von Antaios aufgenommen, deren Kenntnis wir jedem Antifaschisten empfehlen möchten: Götz Kubitscheks Essaysammlung „ Die Spurbreite des schmalen Grats“ und die von Caroline Sommerfeld und Martin Lichtmesz publizierte Polemik „Mit Linken leben“. Diese Bücher und ihre Autoren erfreuen sich ebenfalls starker Debatten auf den Politik- und Feuilleton-Seiten der Tages- und Wochenzeitungen unseres Landes. Diese Berichterstattung ist notwendig, da sie sehr genau die tektonischen Verschiebungen in der politischen Kultur unseres Landes beobachtet. Es ist leider so: Bessere Einführungen in rechtes, identitäres Denken als die Bücher der Genannten gibt es nicht. Das ist Aufklärung im O-Ton. Gefährden wir damit unser Publikum? Müssten wir nicht jeden, der mit Kubitschek an die Kasse kommt, fragen, wes Geistes Kind er ist? Nun: Wir glauben an die intellektuelle Spannkraft unserer Kunden und sind überzeugt, dass das Lesen rechter Publizistik nicht wehrlos macht. Im Gegenteil! Und um auch das klarzustellen: Es geht hier nicht um die Präsentation der gesamten Verlagsproduktion von Antaios & Co. im Schaufenster und die Auslage rechter Stapeltitel an der Kasse. Einen Rechtsruck bei Lehmkuhl muss niemand befürchten.
Ein einziger Blick auf unsere zeitgeschichtlichen Veranstaltungen in diesem Jahr hätte Margarete Stokowski zeigen können, welche Fragen uns und unserem politisch interessierten Publikum wichtig sind: Im Frühjahr diskutierten wir u.a. mit dem Publizisten Thomas Wagner über die Neue Rechte und mit Karl-Heinz Meier-Braun über die Doppelmoral der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik. Im laufenden Herbst referierte Hartmut Wächtler in unserer Buchhandlung über Vergangenheit und Gegenwart politischer Justiz in Bayern und der amerikanische Politologe Corey Robin darüber, wie sehr der amerikanische Rechtspopulismus aus dem Ideenbestand des europäischen Konservatismus schöpft.
Was wir mehr denn je brauchen sind offene und streitbare Debatten über die kontroversen politischen Themen unserer Gegenwart. Schade, dass Margarete Stokowski es vorzieht, lieber in ihrer eigenen Echokammer zu verbleiben.
Michael Lemling
Geschäftsführer der Buchhandlung Lehmkuhl
● Margarete Stokowski zur Absage ihrer Lesung (28.11.2018)
Quellen:
https://www.sueddeutsche.de/kultur/lesung-stokowski-muenchen-1.4197825
http://www.taz.de/!5548081/
https://www.rowohlt.de/news/stellungname-margarete-stokowski
https://www.sueddeutsche.de/leben/untenrum-frei-von-margarete-stokowski-ding-dong-hier-gehts-ums-voegeln-1.3149963
http://www.taz.de/!5548081/
https://www.jugend-debattiert.de/idee/die-debatte/
https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/land-und-leute/blockwarte-im-nationalsozialismus-trebbin100.html
Titelfoto: bones64