Martin Sonneborn zum Stand der Gerichtsverhandlung: “Unfree Assange”

Die Anhörung vor der letzten Gerichtsinstanz, dem Londoner High Court, endete am 21.02.2024 ohne Urteil. Die zuständigen Richter werden es laut Tagesschau frühestens im März bekannt geben.

Dabei geht es um die Frage, ob dem australischen Staatsbürger Assange ein volles Berufungsverfahren zusteht. Für den 52-Jährigen wäre es die letzte Chance, sich vor einem britischen Gericht gegen seine Abschiebung zu wehren.

Martin Sonneborn fasst den Stand nach zwei Verhandlungstagen bei Facebook unter dem Titel “Unfree Assange” zusammen:

“Weil das Verfahren extrem unübersichtlich ist, zuerst noch mal eine kurze (Witz!) Zusammenfassung. Aus’m Pub. Sorry. Aber die Umstände… (Die lange finden Sie auf meiner Homepage, eine 32-Seiten-Broschüre zum Herunterladen.)

Es ist nämlich so, im Januar ’21 hatte das Londoner Bezirksgericht die Auslieferung Assanges an die USA – aus gesundheitlichen Gründen – abgelehnt.

Totschweigen und Skandalisieren

Dagegen legte die US-Seite Berufung ein, woraufhin der High Court im Juni 22 das Urteil des Bezirksgerichts aufhob und stattdessen befand, dass Assange, der während der Verhandlung einen leichten Schlaganfall erlitt, körperlich und psychisch topfit sei und bedenkenlos ausgeliefert werden könne.

Bei der aktuellen Anhörung haben Assanges Anwälte nun die Begründung für ihren Antrag vorgetragen, ein eigenes Berufungsverfahren gegen das ursprüngliche Bezirksgerichts-Urteil führen zu dürfen, das elementare Sachgründe außer Acht gelassen hatte:

– Dass ein australischer Publizist außerhalb des US-Staatsgebietes für die von der Pressefreiheit geschützte Veröffentlichung von in öffentlichem Interesse stehendem Material nach einem US-Spionagegesetz aus dem 1. WK in 17 Anklagepunkten straffällig geworden sein soll, ist vollkommen absurd.

– Selbst wenn man der US-Argumentation folgend A. für einen Spion hielte, hätte die Zustimmung zur Auslieferung durch ein britisches Gericht nicht erfolgen dürfen. Spionage wird von der britischen Rechtsprechung seit 130 Jahren durchgehend als politische Straftat eingestuft, und im US-UK-Auslieferungsvertrag von 2003 sind politische Straftaten von gegenseitiger Auslieferung ausdrücklich ausgeschlossen.

– Der 18. Anklagepunkt – Hacking-Verschwörung mit Chelsea Manning zum gemeinschaftlichen Datendiebstahl – beruht maßgeblich auf der mittlerweile von ihm selbst als “gelogen!” zugegebenen Lüge eines pädophilen Isländers, der dafür in Island Straffreiheit bekommen sollte (die unappetitlichen Details haben wir vergessen & verdrängt, sie stehen in unserer Broschüre). (Wir würden uns übrigens schämen, mit so etwas überhaupt vor Gericht aufzulaufen.)

– Die US-Seite möchte den Australier A. nach dem US-Strafgesetzbuch zur Rechenschaft ziehen, besteht aber gleichzeitig darauf, ihm die Schutzrechte aus dem 1. Verfassungszusatz zu verwehren, da er ja kein US-Bürger sei. Regelbasierte Ordnung, my Ass!

– Den Vorwurf, Taliban-Häuptling Osama bin Laden hätte sich auf dem stillen Örtchen an Wikileaks-Ausdrucken erfeut (wahrscheinlich neben MAD und Süddeutscher Zeitung – Klolektüre!), halten wir für genau so stichhaltig wie die seit Jahren grundlos wiederholte Behauptung, durch Wikileaks seien irgendwelche Informanten gefährdet worden. Auch 14 Jahre nach Erstveröffentlichung des Materials hat die US-Regierung noch niemanden auftreiben oder auch nur namentlich benennen können, dem tatsächlich irgendein Schaden entstanden ist.

– Selbst wenn irgendein Schaden entstanden wäre, hätte das öffentliche Interesse an den Veröffentlichungen das Schutzbedürfnis Einzelner “in titanischer Größenordnung” überstiegen – es ging immerhin nicht nur um die Aufdeckung von Folter, Verschleppung, Mord und kleineren und größeren Kriegsverbrechen, sondern “um ein reales Geschehen, das realen Menschen widerfuhr”. Daneben waren die Wikileaks-Veröffentlichungen geeignet, diese realen und anhaltenden Verbrechen zu beenden. Die Drohnen-Tötungen in Pakistan haben ebenso aufgehört wie die Helikopter-Massaker im Irak. (Dass Wikileaks selbst keine Namen veröffentlichte und diese letzen Endes durch journalistische Nachlässigkeiten an die Öffentlichkeit kamen, ist eine andere Geschichte.)

– Informationen, die erst nach Abschluss des ursprünglichen Verfahrens bekannt geworden sind. So z.B. die vom damaligen CIA-Chefpimmel Mike “Fatty” Pompeo in Auftrag gegebene und von US-Präsident Trump abgesegnete Planung für die Entführung & Ermordung von Julian Assange, der sich seinerzeit als polit. Flüchtling in der Ecuadorianischen Botschaft in London aufhielt.

– Nach dem “Vault 7”-Leak von 2017 (Vgl. unseren Text zum soeben zu 40 Jahren Haft verurteilten Joshua Schulte!) hatte Fatty Pompeo für Wikileaks bekanntlich die neue Feindkategorie des “nichtsstaatlichen feindlichen Geheimdienstes” erfunden, der wir hier mit Assange-Anwalt Fitzgerald unsere eigene entgegensetzen. Wikileaks hat, wenn überhaupt, für die gesamte Menschheit spioniert: “Wikileaks is an espionage agency for the people.”

Wenn das Gericht Assanges Antrag auf ein eigenes Berufungsverfahren stattgibt, dann können diese Punkte eingebracht werden.

Wenn nicht, droht ihm tatsächlich die sofortige Auslieferung. Er könnte sich, wie es Stella Assange befürchtet, binnen Stunden in einem Flugzeug Richtung Virginia wiederfinden. One-Way. (

Dem Gericht ist kein Zeitrahmen vorgegeben für seine Entscheidung.

Unter Prozessbeobachtern kursiert die verhaltene Hoffnung, dass die Biden-Administration neben den laufenden Kontroversen um ihre Ukraine- und Israel-Politik, die ihr eine schwindende Unterstützung eingebracht hat, derzeit ein drittes politisches Schlachtfeld vermeiden möchte – jedenfalls bis zur US-Präsidentschaftswahl im November.

Diesem Szenario würde es entsprechen, wenn der britische High Court Assanges Antrag nachkäme – in aller gebotenen Gemächlichkeit. Für Assange würde das wenigstens ein weiteres Jahr im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Hellmarsh bedeuten. Mit der erneuten Aussicht auf einen Prozess, dessen Ausgang natürlich wieder völlig offen ist.

Eine “Sie-kommen-aus-dem-Gefängnis-frei”-Karte gibt es leider nicht für Assange, so oder so.

Der erste Prozesstag am Dienstag gehörte den brillanten Assange-Anwälten Edward Fitzgerald und Mark Summers. Sie haben noch einmal dargelegt, was für eine alptraumhafte Idee es darstellt, einen australischen Publizisten, der auf seiner Plattform Wikileaks Dokumente zu US-Kriegsverbrechen – Folter, Verschleppung, Mord (an Kindern, Zivilisten, Journalisten) – veröffentlicht hat, an ein Land auszuliefern, das ganz offizielle Pläne zu seiner Ermordung hat erstellen lassen.

Der zweite Tag den etwas schlichteren Anwälten der US-Seite. In teilweise unzusammenhängendem Vortrag wiederholten sie unsubstanziiert und mit angeborener Herablassung faktisch längst wiederlegte Vortragsteile aus der Bezirksgerichtsverhandlung. Assange sei eigentlich gar kein Journalist, weil er schon als Jugendlicher mal irgendwas gehackt habe (staatliche australische Müllabfuhr oder so), Chelsea Manning sei kein Whistleblower (stimmt! eine Whisteblowerin), sie hätte lediglich so Whistleblowersachen gemacht, und irgendwelche dubiosen Mordpläne täten nichts zur Sache…

Die Presse hatte übrigens Schwierigkeiten all dem zu folgen, weil der weltbekannte Hightech-Pionier Grobbritannien im kleinsten Saal seines höchsten Gerichts keine zweckmäßige Mikrophontechnik zur Verfügung stellen kann.

Stattdessen wurden die rund zwei Dutzend angereisten Journalisten von Gerichtsdienern auf eine Galerie getrieben, von der aus sie einer Übertragung der Verhandlung auf Bildschirmen auf harten Kirchenbänken (ohne Tisch) folgen sollten. Die Köpfe von Richtern und Anwälten waren briefmarkengroß, der Ton wurde zeitweise gar nicht übertragen, dann zum Ausgleich doppelt, und blieb über weite Strecken völlig unverständlich.

Das Gericht hatte im Vorfeld angeordnet, dass die “öffentliche” Verhandlung, die wahrscheinlich entscheidenste für die Pressefreiheit weltweit, selbst online nur von Journalisten verfolgt werden durfte, die sich in England und Wales aufhalten.

Der mit massiven Eisenstangen bewährte Käfig, der im Gerichtssaal für Assange zuvorkommenderweise bereitgehalten wurde, blieb an beiden Tagen leer. Sein Gesundheitszustand sei “heikel und verschlechtert sich zusehends”, sagt sein Bruder Gebriel Shipton. Und seine Auslieferung an die USA würde er wohl nicht überleben, sagt Stella Assange.

An beiden Prozesstagen sang eine große Menschenmenge im britischen Regen vor dem High Court in London “FREE, FREE, FREE ASSANGE!”. Zeitgleich gab es Demonstrationen ein Barcelona, Paris, Berlin.

Leider fand kein Staatsführer der westlichen Welt Zeit, sich zu diesem Fall zu äußern.

Am Ende dieses prozessualen Bandwurms, den das britische Gerichtssystem um Julian Assange produziert, wird sich zeigen, ob der Westen seinen moralischen Abstieg ins Mittelalter weiter fortsetzt. In diesem Verfahren geht es nur an der Oberfläche um Julian Assange. Es geht um Recht, Demokratie, Gesetz und Freiheit. Es geht um Regierungskriminalität und Kriegsverbrechen. Es geht um die Kriminalisierung von Journalismus, die Abschaffung der demokratischen Rechenschaftspflicht und die Zerschlagung bürgerlicher Freiheinten.

Pardon: Freiheiten.

Die Europapolitische Beraterin sagt: “Es ist noch nicht perfekt, und ein Satz war komisch”, Büroleiter Hoffmann bestellt Whisky Sour. Ich stelle das jetzt hier ins Netz. Schlielcih ist es schon 23.59 Uhr. Cheers!


https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-974544

Berliner Zeitung: Der Schauprozess um Julian Assange zeigt: Das Verfahren selbst ist die Strafe

Titelbild: hafteh7, pixabay


https://www.facebook.com/reel/263303123478439


Ruhrkultour: https://ruhrkultour.de


Werbung

Moore


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert